Ganztagsschulen sind zu reinen Aufbewahrungsanstalten verkommen

Joachim Bauer kritisiert, dass die Förderung der Potenziale zur Selbststeuerung und Selbstkontrolle an Deutschlands Schulen besorgniserregend mangelhaft ist: „Bedingt durch den Alltagsstress und allgemeinen Zeitmangel ihrer Eltern und Pädagogen, fehlt es vielen Kindern in hohem Maße an persönlichem Gesehenwerden, an Zuwendung und Gelegenheiten zur produktiven Auseinandersetzung mit Bezugspersonen.“ Ein besonders gravierender Mangel herrscht an Möglichkeiten, sich sportlich und musikalisch zu betätigen. Sport und Musik sind für Joachim Bauer sozusagen Intensivtrainingslager für die Entwicklung der exekutiven Funktionen, und hier ganz besonders der Selbstkontrolle und der sozialen Kompetenzen. Anstatt diese Fächer massiv zu verstärken, sind viele Ganztagsschulen in Deutschland, statt Treibhäuser für die Zukunft der Kinder zu sein, inzwischen zu reinen Aufbewahrungsanstalten verkommen. Der Neurobiologe, Arzt und Psychotherapeut Joachim Bauer lehrt an der Universität Freiburg.

Bei Schülern nehmen die Diagnosen von ADHS stark zu

Parallel zum krassen Mangel an Bewegung haben die Zeiten, die Kinder vor Bildschirmen und Displays verbringen, massiv zugenommen. Mit Blick auf die Entwicklung der exekutiven Funktionen ist das, was Kinder und Jugendliche bei Computerspielen, in sozialen Netzwerken oder beim ziellosen Surfen im Internet tun, allerdings wenig hilfreich, im Gegenteil. Gefragt sind in den modernen Medien schnelle Reaktionen auf Reize, nicht aber das für die Entwicklung der Selbststeuerung so wichtige Innehalten und das Reflektieren von Wahlmöglichkeiten.

Ihren Ausdruck findet die für viele Schüler unbefriedigende Lebenssituation in einem hohen Maße an stressbedingten Gesundheitsstörungen und in einer ungewöhnlichen Zunahme der Diagnosen von Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörungen (ADHS). Joachim Bauer ergänzt: „Die Inhaltsstoffe der bei dieser Diagnose verordneten Medikamente – Ritalin und andere – ersetzen jene Glücksbotenstoffe, die von den Belohnungssystemen der betroffenen Kinder nicht mehr ausgeschüttet werden.

Bewegung und Musik erzeugen den Glücksbotenstoff Dopamin

Die potentiellen Nebenwirkungen der ADHS-Medikamente sind beachtlich, die Langzeiteffekte noch völlig unklar. Was die körpereigenen Botenstoffe von jungen Menschen, vor allem den Glücksbotenstoff Dopamin, weit besser als Medikamente aktivieren würde, wäre ein Mehr an persönlicher Zuwendung, vor allem aber Bewegung und Musik. Bereits im Vorschulalter sollten Kinder in Kindergruppen an spielerisch gestalteten Programmen teilnehmen, die darauf abzielen, die Kinder in Bewegung zu bringen, die Aufmerksamkeit zu fokussieren und die körperliche und seelische Selbstwahrnehmung zu schulen.

Joachim Bauer erläutert: „Angesichts des in unseren Schulen herrschenden hohen Ausmaßes an Unruhe, Impulsivität und Destruktivität, unter welchem nicht nur Lehrkräfte, sondern auch die Schülerinnen und Schüler leiden, überrascht es nicht, dass seit einigen Jahren eine Intervention Eingang in den Schulalltag gefunden hat, deren Ziel es ist, den unruhigen Geist zu fokussieren und in einen Zustand wohltuender Ruhe zu bringen.“ Die in den USA vor allem unter der Bezeichnung Mindfulness-Based Stress Reduktion (MBSR) verbreitete Achtsamkeitspraxis verbindet Übungen meditativer Konzentration mit Yogaelementen. Quelle: „Selbststeuerung“ von Joachim Bauer

Von Hans Klumbies