Jean-Jacques Rousseau verurteilt die Zivilisation

Jean-Jacques Rousseau bereicherte die abendländische Philosophie um drei revolutionäre, seitdem höchst einflussreiche Ideen. Erstens erklärte er, die Zivilisation sei nichts Gutes, wovon bisher ausgegangen worden war, sondern etwas grundsätzlich Schlechtes. Jean-Jacques Rousseau glaubte, dass die Menschen zwar gut geboren, aber durch die Erziehung zur Gesellschaft verdorben werden. Zweitens plädierte er, sowohl im privaten als auch im öffentlichen Leben, für das Primat des Gefühls und der natürlichen Instinkte gegenüber der Vernunft.

Der Mensch muss sich dem Gemeinwillen fügen

Drittens definierte Jean-Jacques Rousseau die menschliche Gesellschaft als ein kollektives Wesen mit einem eigenen Willen, der sich von der Gesamtheit der Willen der einzelnen Mitglieder der Gesellschaft unterscheidet. Der Bürger hat die Pflicht, sich diesem Gemeinwillen zu unterwerfen. Im Naturzustand ist der Mensch Jean-Jacques Rousseau zufolge ein edler Wilder. Ein Kind dagegen, das in einer zivilisierten Gesellschaft aufwächst, lernt seine natürlichen Instinkte zu zügeln und zu zerstören. Seine wahren Gefühle werden unterdrückt und in künstliche Kategorien des begrifflichen Denkens eingepasst.

Das Kind verbirgt seine echten Empfindungen und Gedanken und heuchelt nicht vorhandene. Die Zivilisation zerstört also die wahren Werte, statt sie zu schaffen und zu verbreiten. Ist der Mensch erst einmal in der Zivilisation heimisch geworden, kann er nicht mehr in den Urzustand zurückkehren. Deshalb plädierte Jean-Jacques Rousseau dafür, die Zivilisation als Ganzes so zu verändern, dass die natürlichen Instinkte und Gefühle der Menschen vollständiger und freier zum Ausdruck kommen.

Die Gesetze gelten für alle Bürger

Um den einzelnen Menschen von den Ketten der Zivilisation zu befreien, trat er für eine grundlegende Reform in der Erziehung ein. Der Unterricht darf die natürlichen Neigungen des Kindes nicht unterdrücken. Die Schüler sollen nicht aus Büchern, sondern aus der unmittelbaren Erfahrung von Menschen und Dingen lernen. Das natürliche Lernumfeld geht von der Schule auf die Eltern über, die als Lernanreize keine Regeln und Strafen anwenden dürfen, sondern mit Sympathie und Liebe unterrichten sollen.

Bei der Gesetzgebung sollen alle Bürger wie in einem griechischen Stadtstaat mitwirken dürfen. Auf diese Weise kann sich der Gemeinwille äußern, der ausdrückt, was für die Gesellschaft im Ganzen das Beste ist. Dabei kann es durchaus passieren, dass Einzelinteressen auf der Strecke bleiben, ja sogar Opfer vom Einzelnen verlangt werden können. Das souveräne Volk darf bestimmen, wer mit der Aufgabe betraut wird, diese Gesetze durchzusetzen. Die Gesetze sind für alle bindend, niemand darf sie brechen.

Bei Jean-Jacques Rousseau wird dem Menschen das Recht abgesprochen, vom Gemeinwillen abzuweichen, was zum Verlust der persönlichen Freiheit führt. Die großen totalitären Bewegungen des 20. Jahrhunderts, der Kommunismus und der Faschismus, haben die Ideen Jean-Jacques Rousseaus aufgegriffen und beansprucht, das Volk zu repräsentieren, ja sogar demokratisch zu sein, obwohl sie die Individualrechte leugneten.

Kurzbiographie: Jean-Jacques Rousseau

Jean-Jacques Rousseau wurde 1712 in der freien Republik Genf geboren. Eine Lehre bei einem Kupferstecher brach er ab. Danach führte er ein unstetes Leben, von heftigen Gefühlen getrieben, stets auf Wanderschaft, von einer Berufstätigkeit zur anderen. Zu seinen berühmtesten Büchern zählen „Diskurs über Wissenschaft und Kunst“, „Diskurs über die Ungleichheit“, „Die neue Héloise“, „Emile“, „Vom Gesellschaftsvertrag“ und „Bekenntnisse“.

In den Jahren 1766 und 1767 hielt sich Jean-Jacques Rousseau auf Einladung des britischen Philosophen David Hume in England auf. Dort wurde er von der Wahnidee befallen, dass ihn David Hume vernichten wolle und flüchtete nach Frankreich, wo er 1778 starb.

Von Hans Klumbies