„Leben und leben lassen“ ist die Botschaft des Jainismus

In Indien haben sich die Menschen an die sonderbare religiöse Minderheit der Jain gewöhnt. In anderen Teilen der Welt ist die uralte indische Lebensform des Jainismus ein Mysterium und ein Rätsel geblieben. Bisher haben sich nur ein paar Religionswissenschaftler mit dieser relativ unbekannten Glaubenslehre beschäftigt. In Deutschland könnte sich dies nun nachhaltig ändern, da der neue Chef der Deutschen Bank, Anshu Jain, ein Jain ist. Elacharya Shri Shrutsagar gehört zu den zwei wichtigsten lebenden Acharyas, so heißen die Heiligen im Jainismus. Er erklärt: „Der Jainismus ist keine Religion. Er ist eine Lebensform und eine Wissenschaft.“ Dennoch wird der Jainismus, obwohl er nur vier bis acht Millionen Anhänger hat – vor allem in Indien – als Weltreligion bezeichnet.

Die fünf Grundsätze des Jainismus

Im umgekehrten Verhältnis zu ihrer spartanischen Lebensweise steht die Botschaft der Jain, die Elacharya Shri Shrutsagar in vier Worten wiedergibt: „Leben und leben lassen.“ Im Jainismus gibt es keinen Auftrag zur Missionierung, die Gläubigen arbeiten nur an ihrem eigenen spirituellen Fortkommen. Ihr Ziel ist es, die absolute Kontrolle über die Sinne zu gewinnen. Dies soll ihnen dabei helfen, die fünf Grundsätze des Jainismus zu befolgen. Das oberste Gebot dieser indischen Lebensform ist die Gewaltlosigkeit gegenüber Menschen, Tieren und sogar Pflanzen.

Fast alle Anhänger des Jainismus vermeiden es, Wurzelgemüse aus dem Boden zu reißen, da ihm ein schlechtes, dunkles Karma nachgesagt wird. Äpfel essen sie auch nur, wenn sie vorher schon vom Baum gefallen sind. Diebstahl und Lüge sind im Jainismus verboten. Zudem muss ein Jain sexuell treu sein und falls er ein Priester ist, im Zölibat leben. Der fünfte Grundsatz ist die Abkehr von jeglichem Materialismus, das heißt er sollte auf persönlichen Besitz verzichten.

Beim Jainismus handelt es sich um einen Denkprozess

Darf Anshu Jain, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bank, ein Millionengehalt verdienen? Elacharya Shri Shrutsagar gibt auf diese Frage eine weise Antwort: „Was immer er tut, er muss dabei gut sein und den anderen dienen.“ In Indien sind die Jain eine sehr erfolgreiche Minderheit, die man überproportional oft in angesehenen Berufen findet. Einer von ihnen, Pradeep Kumar Jain, hat es sogar zum Minister für Ländliche Entwicklung gebracht. Der Politiker erklärt den Erfolg der Jain mit ihrer Bildung – 99 Prozent von ihnen können lesen und schreiben.

Der Minister erklärt, dass es sich beim Jainismus um einen Denkprozess handle. Er fügt hinzu: „Weil man lernt, seine Sinne zu kontrollieren, hat man es leichter, auch im Berufsleben hohe Ziele zu erreichen.“ Karriere und Wohlstand sind laut Pradeep Kumar Jain mit der Philosophie des Jainismus durchaus vereinbar, sofern sie nicht Anspruchsdenken und Gier nach sich ziehen. Pradeep Kumar Jain ergänzt: „Es geht darum, das Leben als Ganzes im Blick zu behalten und sich demütig der Vergänglichkeit einzelner Phasen bewusst zu sein.“

Von Hans Klumbies