Fast jeder Mensch läuft mit einem Sack voll Vorurteilen herum

Der schottische Schriftsteller Irvine Welsh wurde durch seinen Debutroman „Trainspotting“ weltberühmt. Dabei ging es um Drogenexzesse mit Heroin und Ecstasy. Dieses Buch schockierte Anfang der 90er-Jahre ganz Großbritannien. Die Verfilmung von „Trainspotting“ gehört zum Kultinventar des gesamten Jahrzehnts. Sein neuer Roman „Das Sexleben siamesischer Zwillinge“ spielt in Miami. Lucy, eine Fitnessverrückte, verhindert darin mit mutigem Eingreifen einen Mord und wird zur Heldin in einem lokalen Fernsehsender. Lena, eine übergewichtige Künstlerin, hat die Heldentat gefilmt und den Medien zugespielt. Danach bleiben die beiden Frauen in Kontakt. Lucy beschießt, auch das Leben von Lena zu retten, indem sie ihre Personal Trainerin wird. Wenn Irvine Welsh besonders dicke Menschen sieht, denkt er zuerst einmal daran, dass sich die Leute wohlfühlen sollten, egal wie sie sind.

Der neue Roman ist aus der Perspektive einer Frau geschrieben

Irvine Welsh ergänzt: „Und dabei ist der physische Zustand meist eben nicht der wichtigste Faktor. Aber manche Leute sind auch dick, weil sie sich in einer depressiven Phase überfressen haben. Man weiß oft nicht, was wirklich dahintersteckt. Deshalb sollte man einfach nicht über andere urteilen.“ Wenn es jemand trotzdem tut, dann vermutlich deshalb, weil sich jeder als kleiner Psychologe fühlt und mit einem Sack voller Vorurteile herumläuft. Viele Menschen überlegen sich Geschichten zu Menschen, denen sie einfach nur zufällig begegnet sind.

„Das Sexleben siamesischer Zwillinge“ ist das erste Buch, das Irvine Welsh komplett aus weiblicher Perspektive geschrieben hat. Es kam dazu, weil die Objektifizierung von Menschen zwar mittlerweile ein Problem beider Geschlechter ist. Aber dennoch verspüren Frauen traditionell einen noch größeren Druck, wenn es um das Äußere und einen wohlgeformten Körper geht. Für Irvine Welsh war es nicht schwieriger aus der Sicht einer Frau als aus der Perspektive eines Mannes zu schreiben. Aber es war für ihn viel komplizierter aus der Sichtweise von Amerikanern zu schreiben.

Autoren sind immer von sich selbst besessen

Das amerikanischste an dem neuen Roman von Irvine Welsh ist diese 24-Stunden-Breaking-News-Kultur. Der Schriftsteller erklärt: „Diese Tendenz der Medien, aus jeder Person einen Reality-TV-Star machen zu wollen. Fällt eine Person einmal auf, werden sofort alle persönlichen Hintergründe erforscht. Furchtbar ist das.“ In „Das Sexleben siamesischer Zwillinge“ scheint es Lucys Hauptproblem zu sein, dass sie zu sehr auf sich selbst fixiert ist. Das trifft in gewisser Weise natürlich auch auf Schriftsteller zu. Irvine Welsh stellt fest: „Autoren sind doch auf irgendeine Art und Weise immer von sich selbst besessen.“

Schriftsteller verbringen eben viel Zeit mit sich selbst, wenn sie alleine dasitzen und schreiben. Jeder der Hauptfiguren steht für die Kluft zwischen Kunst und Sport. Sportliche Menschen sind laut Irvine Welsh fast nie gleichzeitig künstlerisch veranlagt und andersrum – dabei interessieren sich viele Leute für beides. Irgendwie hat es die moderne Gesellschaft geschafft, diese Sparten voneinander zu trennen. In dem neuen Buch kommen keine harten Drogen vor. Aber wenn jemand wie Lucy, vier oder fünf Mal pro Woche ins Fitnessstudio geht, handelt es sich dabei auch oft um eine Abhängigkeit. Quelle: Welt Kompakt

Von Hans Klumbies