In Deutschland können 7,5 Millionen Menschen kaum lesen

Viele Pädagogen und Politiker stellen sich die Frage, wie es sein kann, dass Kinder, die mindestens neun Jahre in die Schule gehen müssen, nach Abschluss ihrer Schulausbildung weder schreiben noch lesen können. Etwa 60 Jugendliche verlassen jedes Jahr die Schule ohne Abschluss. In dieser Gruppe befinden sich viele, die möglicherweise einzelne Wörter lesen können, aber weder Briefe noch E-Mails, geschweige denn Verträge und Dokumente. Mit Dummheit hat das in den wenigsten Fällen etwas zu tun, denn viele Analphabeten sind sogar besonders geschickt darin, trotz ihres Handikaps die Probleme ihres Alltags zu meistern. Doch die sogenannte Leo-Studie wies im vergangenen Jahr auf die dramatische Situation in Deutschland hin. Demnach gibt es hierzulande 7,5 Millionen Erwachsene, die kaum oder nur sehr schlecht lesen und schreiben können.

Deutschland hat ein Grundbildungsproblem

Rund 300.000 Deutsche können laut Leo-Studie nicht einmal einzelne Wörter lesen, zwei Millionen verstehen Wörter, aber keine Sätze. Dass in Deutschland dringender Handlungsbedarf besteht, darin sind sich Politiker und Bildungsexperten einig. Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) sagt: „Es gibt Analphabetismus in Deutschland in einer Größenordnung, die nicht mehr eine Nische darstellt.“ In der Praxis setzten die Maßnahmen gegen die Analphabetisierung allerdings in erster Linie im Erwachsenenalter an. Für viele Bildungsexperten ist dieser Zeitpunkt eindeutig zu spät.

Peter Hubertus vom Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung erklärt: „Seit der ersten Pisa-Studie weiß man, dass Deutschland ein Grundbildungsproblem hat. Knapp zehn Prozent der Jugendlichen konnten einem einfachen Text keine Information entnehmen.“ Die erste Pisa-Studie erschien im Jahr 2001. Peter Hubertus sieht auch die weiterführenden Schulen in der Pflicht und kritisiert: „Es kann doch nicht sein, dass Kinder ihr Lernpotential am Ende der vierten Klasse schon erreicht haben.“

Analphabeten sollten in Kleingruppen an Ganztagsschulen betreut werden

In Förder- und Hauptschulen können Kinder ihre sowieso schon schlechten Fähigkeiten beim Lesen häufig nicht verbessern. Viele Wissenschaftler aus dem Bereich der Pädagogik fordern daher praxisorientierte Pflichtveranstaltungen im Lehramtstudium sowie die Betreuung der Analphabeten in Kleingruppen an Ganztagsschulen. Peter Hubertus erläutert: „Wenn Schule nicht nur eine Teilzeitschule am Vormittag wäre, könnte man Kinder, die zu Hause durch ihre Familie nicht gefördert werden, besser unterstützen.“

Die Politik setzt ihre Bemühungen allerdings zuerst bei den Erwachsenen an. Das Bundesbildungsministerium förderte in den vergangenen fünf Jahren ein Forschungsprogramm zur Alphabetisierung Erwachsener mit 35 Millionen Euro. Die Ergebnisse der Leo-Studie, die auch mit diesen Geldern finanziert worden war, haben unter anderem gezeigt, dass 57 Prozent der sogenannten funktionalen Analphabeten einen Job haben. Jedoch machen erschreckend wenige von den Angeboten der Volkshochschulen Gebrauch. Laut Leo-Studie waren es nur 20.000 von 7,5 Millionen funktionalen Analphabeten.

Von Hans Klumbies