Im spekulativen Realismus wird Denken wieder zum Abenteuer

Ins Wanken geriet die scheinbar feststehende Beziehung zwischen Subjekt und Objekt oder der Sprache und der Welt durch den französischen Philosophen Quentin Meillassoux. Für ihn sind die Datierungen der Wissenschaften nicht irgendwelche hypothetischen Konstruktionen, sondern reale Tatsachen, die unabhängig vom Denken entstanden sind und existieren. Denn laut Quentin Meillassoux gibt es sehr, sehr lange Zeiträume in der Geschichte der Welt, die unabhängig vom Menschen und seinem Denken waren und sind, da das Universum vor etwa 13,5 Milliarden Jahren und die Erde vor 4,45 Milliarden Jahren entstand, während der Mensch erst vor zwei Millionen Jahren in der Welt auftauchte. Und weil die Fakten der vorlebendigen und vormenschlichen Welt der Realität entsprechen, hat sich die Philosophierichtung, die Quentin Meillassoux angestoßen hat, den Namen „spekulativer Realismus“ gegeben.

Die spekulativen Realisten schreiben so eigenständig wie sie denken

Zu den Gründungstheoretikern des spekulativen Realismus zählen neben Quentin Meillassoux, die Philosophen Ray Brassier, Iain Hamilton Grant und Graham Harman. Die sogenannten spekulativen Realisten treten allerdings nicht als eine verschworene Einheit auf, sondern als in vielen Punkten gegensätzliche Denker. So bezeichnet zum Beispiel der Wissenschaftssoziologe Bruno Latour den Gründungstheoretiker Graham Harman als „Prinz der Netzwerke“, wogegen wiederum Ray Brassier für Bruno Latour den Begriff des „postmodernen Irrationalisten“ geprägt hat.

Es gehört zu den erfreulichen Tatsachen des Denkens der spekulativen Realisten, dass sie sich gegenseitig teilweise heftig kritisieren und angreifen, wobei der Leser allerdings nie das Gefühl hat, sie würden etwas anderes als ihr Denken zerpflücken. Ihre Texte machen auch deutlich, dass sie keine Einheit sind, sondern auch so eigenständig schreiben wie sie denken. Allerdings ist ihnen eines gemeinsam: alle lehnen prinzipiell den Begriff der Einheit für das Universum, die Welt und das Leben ab.

Die Fortpflanzung durch Vererbung ist allein dem Zufall zu verdanken

Für die spekulativen Realisten gibt es keine ursprüngliche Harmonie oder Einheit, sondern von Anfang an nur individualisierte zufällige Begegnungen. So wie beispielsweise das Leben aus dem zufälligen Zusammentreffen von bis dahin isolierten Elementen oder Stoffen entstand. Diese schafften es dann in ihrer neuen Verbindung, Mechanismen zu entwickeln, die ihre Reproduktion ermöglichten. Für die spekulativen Realisten gibt es also kein genetisches a priori. Dass es die Fortpflanzung durch Vererbung gibt, ist ihrer Meinung nach allein dem Zufall zu verdanken.  

Kontingenz bedeutet für Quentin Meillassoux mehr als nur Zufall. Kontingenz heißt für ihn, dass alles was ist, auch anders sein könnte, auch in den physikalischen Naturgesetzen. Quentin Meillassoux schreibt: „Wir behaupten, dass sich die Naturgesetze tatsächlich ohne Grund verändern können, trotzdem erwarten wir nicht – nicht mehr als irgendjemand sonst auch –, dass sie sich unaufhörlich verändern.“ Wenn sich die Menschen dieser Erkenntnis stellen und von einem kausalen zu einem nicht-kausalen Universum übergehen, werden sie seiner Meinung nach nichts verlieren, nichts außer Rätsel.

Von Hans Klumbies