Hermann Hesse teilt die Leser von Büchern in drei Gruppen ein

Es ist laut Hermann Hesse ein eingeborenes Bedürfnis des menschlichen Geistes, Typen aufzustellen und die Menschen nach ihnen einzuteilen. Auch ganz unbewusst teilt jeder Mensch die Personen seiner Umgebung in Typen ein, nach Ähnlichkeiten mit Charakteren, die in seiner Kindheit ihm wichtig geworden sind. Manchmal schadet es allerdings nicht, von solchen Verallgemeinerungen abzuweichen. Denn jeder Mensch trägt Züge von jedem Typus an sich. Außerdem lassen sich diverse Charaktere und Temperamente, als einander ablösende Zustände, auch innerhalb einer einzelnen Persönlichkeit finden. Hermann Hesse unterscheidet drei Typen, oder besser gesagt Stufen, von Bücherlesern. Wobei allerdings jeder der Leser zeitweise der einen, dann wieder zu der anderen Gruppe gehört. Im Jahr 1946 wird dem damals 69 Jahre alten Hermann Hesse der Literaturnobelpreis verliehen.

Naive Leser übernehmen restlos die Deutungen der Dichter und seiner Erfindungen

Auf der ersten Stufe der Bücherleser platziert Hermann Hesse den naiven Leser, wobei er einräumt, dass jeder zuzeiten naiv lesen würde. Hermann Hesse schreibt: „Dieser Leser nimmt ein Buch zu sich wie der Essende die Speise, er ist lediglich Nehmender, er isst und saugt sich voll.“ Das Buch führt der Leser folgt. Das Stoffliche wird objektiv genommen, wird als Wirklichkeit anerkannt. Manche Leser übernehmen sogar restlos die Deutungen, die der Dichter selbst seinen Erfindungen gibt. Dieser naive Leser ist, in seinem Verhältnis zur Lektüre, überhaupt nicht Person, nicht er selbst.

Die zweite Form des Lesers schätzt weder Stoff noch Form eines Buches als seine einzigen und wichtigsten Werte. Hermann Hesse erklärt: „Dieser Leser weiß, wie die Kinder es wissen, dass jedes Buch zehn und hundert Bedeutungen und Sinne haben kann.“ Dieser Typus kann zum Beispiel einem Dichter oder Philosophen dabei zuschauen, wie diese sich Mühe geben, seine Deutung und Bewertung der Dinge sich selber und den Lesern einzureden. Er erkennt in der scheinbaren Willkür und Freiheit des Dichters lediglich Zwang und Passivität und lächelt leise darüber.

Von jeder Wahrheit ist auch das Gegenteil wahr

Auf der letzten Stufe thront der dritte und letzte Typus des Lesers. Hermann Hesse weist darauf hin, dass sie anscheinend die genaue Umkehrung dessen ist, was man üblicherweise einen „guten Leser“ nennt. Hermann Hesse erläutert: „Dieser dritte Leser ist so sehr Persönlichkeit, ist so sehr er selbst, dass er seiner Lektüre völlig frei gegenübersteht. Er will weder sich bilden, noch sich unterhalten, er benutzt ein Buch nicht anders als jeden Gegenstand der Welt, es ist ihm lediglich Ausgangspunkt und Anregung.“

Er liest einen Philosophen nicht, um ihm zu glauben oder seine Lehre anzunehmen. Auch liest er einen Dichter nicht, um sich die Welt von ihm deuten zu lassen. Er deutet selber. Er ist dabei, um die Worte von Hermann Hesse zu gebrauchen, völlig Kind. Er spielt mit allem. Und von einem gewissen Standpunkt aus ist nichts fruchtbarer und ergiebiger, als mit allem zu spielen. Hermann Hesse fügt hinzu: „Findet dieser Leser in einem Buch eine schöne Sentenz, eine Weisheit, eine Wahrheit ausgesprochen, so dreht er sie probeweise erst einmal um. Er weiß längst, dass von jeder Wahrheit auch das Gegenteil wahr ist.“

Von Hans Klumbies