Hermann Hesse liebt als einzige Tugend den Eigensinn

Für Hermann Hesse gibt es nur eine einzige Tugend, die er sehr liebt. Sie heißt Eigensinn. Von den anderen Tugenden hält der weltberühmte Schriftsteller nicht viel. Hermann Hesse nennt den Grund dafür: „Und doch könnte man alle die vielen Tugenden, die der Mensch sich erfunden hat, mit einem einzigen Namen umfassen. Tugend ist: Gehorsam.“ Es stellt sich nur die Frage, wem der Mensch gehorchen soll. Denn selbst der Eigensinn ist für Hermann Hesse, der 1946 den Nobelpreis für Literatur erhielt, nichts anderes als Gehorsamkeit. Der Eigensinn gehorcht allerdings einem anderen Gesetz, einem einzigen, unbedingt heiligen, dem Gesetz in sich selbst, dem Gesetz des Eigenen, während alle anderen mensachlichen Tugenden Gehorsam gegenüber Gesetzen sind, die von anderen Menschen erlassen wurden.

Der Eigensinn hat viele Namen

Hermann Hesse findet es bedauerlich, dass der Eigensinn unter den Menschen so wenig beliebt ist. Die meisten Leute halten ihn sogar für ein Laster oder eine bedauerliche Unart. Man nennt ihn bloß bei seinem vollen Namen, wenn er stört und Hass erregt. Wo der Eigensinn als Tugend oder hübsche Zier betrachtet wird, schwächt man seinen rauen Namen nach Möglichkeit ab und nennt ihn Charakter oder Persönlichkeit. Das klingt wesentlich freundlicher als Eigensinn.

Als anderes Synonym für den Eigensinn hat sich die Originalität eingebürgert. Sie kommt zum Einsatz bei Künstlern, Sonderlingen und anderen Käuzen, die nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechen. Beim Künstler gilt ein gewisser Eigensinn sogar als löblich und wünschenswert. Wenn der Eigensinn als Charakter bezeichnet wird, hat des für Hermann Hesse etwas Verzwicktes. Er erklärt den Grund: „Charakter nennt man einen Mann, der einige eigene Ahnungen und Ansichten hat, aber nicht nach ihnen lebt. Er lässt nur ganz fein je und je durchblicken, dass er anders denkt, dass er Meinungen hat.“

Die Definition des Eigensinns

Hermann Hesse definiert den Eigensinn als das, was einen eigenen Sinn hat. Einen eigenen Sinn hat seiner Meinung nach jedes Ding auf Erden, sei es ein Stein, eine Blume, ein Strauch, ein Grashalm oder ein Tier. Es gibt allerdings zwei Ausnahmen. Hermann Hesse schreibt: „Einzig der Mensch und das von ihm gezähmte Haustier sind dazu verurteilt, nicht der Stimme des Lebens und Wachstums zu folgen, sondern irgendwelchen Gesetzen, die von Menschen aufgestellt sind und die immer von Zeit zu Zeit wieder von Menschen gebrochen oder geändert werden.“

Und nun kommt Hermann Hesse im Zusammenhang mit dem Eigensinn auf das Sonderbarste zu sprechen. Er stellt fest, dass jene wenigen, die den willkürlichen Gesetzen nicht gehorchten, um ihren eigenen, natürlichen Gesetzen zu folgen, meistens verurteilt und gesteinigt worden sind. In späteren Zeiten wurden aber sie, gerade sie, für immer als Helden und Befreier verehrt.

Von Hans Klumbies