Herbert Marcuse wagt eine Neubestimmung der Kultur

Zur Neubestimmung der Kultur nimmt Herbert Marcuse eine Definition von Webster zum Ausgangspunkt, wonach Kultur als der Komplex spezifischer Anschauungen des Glaubens, Errungenschaften, Traditionen und so weiter zu verstehen ist, die den Hintergrund einer Gesellschaft bilden. In den Mittelpunkt seiner Analyse stellt Herbert Marcuse das Verhältnis von Hintergrund und Grund einer Gesellschaft. Er schreibt: „Kultur erscheint so als der Komplex moralischer, intellektueller und ästhetischer Ziel, die eine Gesellschaft als den Zweck der Organisation, Teilung und Leitung ihrer Arbeit betrachtet – das Gut, das durch die von ihr eingerichtete Lebensweise erlangt werden soll.“ Herbert Marcuse betrachtet nur dann eine Kultur als existent, wenn die repräsentativen Ziele und Werte erkennbar in die gesellschaftliche Wirklichkeit übersetzt wurden. Das heißt, die Beziehungen zwischen den Mitgliedern der jeweiligen Gesellschaft müssen eine nachweisbare Affinität zu den verkündeten Werten aufweisen.

Die Kultur steht auf einer höheren Ebene als die Zivilisation

Kultur ist für Herbert Marcuse eindeutig mehr als jede Ideologie. Er definiert sie eher als einen Prozess der Humanisierung, charakterisiert durch die kollektive Anstrengung, das menschliche Leben zu erhalten, den Kampf ums Dasein zu befrieden oder in kontrollierbaren Grenzen zu halten. Dazu kommt die Aufgabe, die geistigen Fähigkeiten der Menschen zu entwickeln und Aggressionen, Elend und Gewalt zu verringern und in Tugenden zu verwandeln, die der Gesellschaft dienlich sind.

Nur der Ausschluss von Grausamkeit, Fanatismus und unsublimierter Gewalt erlaubt laut Herbert Marcuse die Definition der Kultur als Prozess der Humanisierung. Herbert Marcuse unterscheidet zwischen Kultur und Zivilisation, wobei sich die Kultur auf eine höhere Dimension menschlicher Autonomie und Erfüllung bezieht, während Zivilisation das Reich der Notwenigkeit bezeichnet, des gesellschaftlich notwendigen Arbeitens und Verhaltens, worin der Mensch äußeren Bedingungen und Bedürfnissen unterworfen ist.

Kultur war stets das Vorrecht einer kleinen Minderheit

Zur Zivilisation zählt Herbert Marcuse unter anderem die materielle Arbeit, den Arbeitstag, die Natur und das operationelle Denken. Im Reich der Kultur siedelt er beispielsweise die geistige Arbeit, den Feiertag, die Muße, den Geist und das nichtoperationelle Denken an. Herbert Marcuse glaubt, dass die technologische Zivilisation dazu tendiert, die transzendenten Ziele der Kultur zu beseitigen. Denn in seiner herrschenden Form und Richtung verlangt der Fortschritt dieser Zivilisation operationelle Denkweisen.

Um jede romantische Missdeutung zu vermeiden, stellt Herbert Marcuse klar, dass Kultur stets das Vorrecht einer kleinen Minderheit war, eine Sache von Reichtum, Zeit und zufälligem Glück. Herbert Marcuse fügt hinzu: „Für die benachteiligte Volksmasse waren die höheren Werte stets bloße Worte oder leere Ermahnungen, Illusionen, Täuschungen; bestenfalls waren sie Hoffnungen und Bestrebungen, die unerfüllt blieben.“ Zu gewissen Zeiten, möglicherweise auch in der Gegenwart, nahm die Kultur eine äußerst privilegierte Stellung ein.

Kurzbiographie: Herbert Marcuse

Herbert Marcuse wurde am 19. Juli 1898 in Berlin geboren. Im Jahr 1934 emigrierte der Philosoph, Politologe und Soziologe in die USA, wo er bis zu seiner Emeritierung als Professor für Philosophie an der University of California lehrte. Zu seinen bekanntesten Schriften zählen: „Vernunft und Revolution“, „Triebstruktur und Gesellschaft“, Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus“, „Der eindimensionale Mensch“, „Kultur und Gesellschaft I und II“ sowie „Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft“. Herbert Marcuse starb am 29. Juli 1979 in Starnberg.

Von Hans Klumbies