Henri Lefebvre stellt den griechischen Denker Sokrates vor

Im Lauf ihrer Geschichte haben die Griechen in der Antike nicht wenige philosophische und politische Projekte erprobt. So gründeten sie zum Beispiel die Polis und wagten sich an die Schaffung eines Staatsgebildes. Außerdem erprobten sie äußerst unterschiedliche Verhältnisse von Theorie und Praxis, einschließlich der Rhetorik, der Sophistik und der Dialektik, in der Praxis. Philosophische Probleme versuchten die griechischen Denker mit der spekulativen, logischen und ontologischen Methode zu lösen. Zudem haben sie die Umrisse des Systems an sich entworfen, die Lehre vom Sein. Henri Lefebvre schränkt ein: „Sokrates allerdings konfrontiert lieber die Lehrsätze, als dass er ihnen beipflichtete oder dagegen argumentierte.“ Er ist weder ein Anhänger der unwandelbaren Ontologie des Parmenides noch der dialektischen Philosophieauffassung eines Heraklit.  

Sokrates weist einen Weg zu größerem Wissen

Sokrates ist davon überzeugt, dass er nichts weiß, beziehungsweise vielmehr, das er weiß, dass er nichts weiß: In der Philosophie heißt das dialektische Position und Proposition. Sokrates verschleiert, indem er sagt, dass er nichts weiß, sein göttliches Wissen. Henri Lefebvre erklärt: „Er tut so, als wisse er nichts, er lügt. Dennoch sagt er die Wahrheit: was er weiß, ist fast nichts. Das ist erst der Beginn der Erkenntnis: Neugierde, Erstaunen, die fragende Vernunft.“

Das ist erst die Möglichkeit des Wissens: die Logik und der Logos, der Diskurs und das Bewusstsein des Diskurses. Sokrates möchte laut Henri Lefebvre mehr wissen. Er diskutiert und sucht, weist hin auf dem Weg, der zu größerem Wissen führt. Es spielt ein Spiel. Im Dialog hört Sokrates keineswegs mit seiner Verschleierungstaktik auf. Er ist aber für den Befragten wie für den Fragenden, Maskerade und Enthüllung zugleich. Sokrates hat auch keinen Zweifel daran, dass nichts endgültig dauerhaft ist, dass alles sich wandelt, verfällt und schließlich verschwindet.

Sokrates erschüttert die festgefügten Gewissheiten

Bei der Bewegung philosophiert Sokrates nicht über das Sein, sondern über das gleichermaßen Unbekannte Mögliche und Unmögliche. Immer wieder weist Sokrates auch auf die Gültigkeit des Widerspruchs hin. Henri Lefebvre schreibt: „Er erschüttert die festgefügten Gewissheiten, weil die Dinge, die so perfekt den Schein vermitteln, zu sein, was sie sind, und so solide und so sehr Dinge und dieses ihr Gewerbe als Dinge so eindrucksvoll ausüben, ihre Zerbrechlichkeit offenbaren.“

Sokrates enthüllt mit seiner Art der Philosophie die Unzulänglichkeiten und Illusionen der Menschen, mit anderen Worten, ihre Grenzen. Henri Lefebvre weist darauf hin, dass Sokrates dabei niemanden angreift, keinen zum Narren hält und keinen Witz besitzt. Seiner Meinung nach nimmt der große griechische Denker nichts auf die leichte Schulter. Er macht keine Späße, verfügt aber über sehr viel Ironie, die manchmal grausam erscheint, weil die meisten Menschen Nichtwissende sind und unbewusst dahinleben.

Kurzbiographie: Henri Lefebvre

Henri Lefebvre, der von 1901 bis 1991 lebte, war ein marxistischer Soziologe, Intellektueller und Philosoph. Lage bevor es Mode wurde, die Probleme des Alltagslebens auch für die Theorie der Philosophie, Soziologie und Ästhetik zu reklamieren, hat Henri Lefebvre die Dialektik zwischen Überbau – Kultur, Wissenschaften, Recht, Religion – und der Alltagswelt der Menschen zum Gegenstand der wissenschaftlichen Beobachtung gemacht.

Ein der aufschlussreichsten Arbeiten auf diesem Gebiet ist sein Buch „Einführung in die Modernität“ indem er Ideen, Symbole, menschliche Ausdrucksweisen und Einstellungen betrachtet, die das mitkonstituiert haben, was heute moderne Gesellschaft heißt. Henri Lefebvre zeigt einen Zusammenhang zwischen Handlungen und Problemen auf, in dem die Menschen sich wiedererkennen und der die Findung ihrer Identität ebenso wie ihre Deutung der Welt bestimmt.

Von Hans Klumbies