Henri Lefebvre singt das hohe Lied auf die Feste des Frühlings

Seit den Anfängen der Kunst und der Literatur preisen und loben die Dichter den Frühling in den höchsten Tönen. Sie nennen ihn die Zeit der Liebe, die gewaltige Brunst der Natur, die Tage der Fruchtbarkeit und den Zeitraum der Herrschaft Aphrodites und der Venus. Das expressive Thema des Monats Mai zählt Henri Lefebvre zu jenen, die unerschöpflich scheinen. Die Lobgesänge der griechischen und lateinischen Texte hallen noch in seinem Gedächtnis nach. Von Anbeginn an bemächtigt sich auf die französische Literatur des Themas des Frühlings. Henri Lefebvre fügt hinzu: „Der antiken Vorstellung zufolge, die sich bis in die Naturphilosophie unserer Tage hinein verlängert, ist die Natur eine grundlegende Macht – Physis.“ In Raum und Zeit mit sich selbst identisch bleibend, impliziert sie seiner Meinung nach die Endlichkeit des Kosmos.

Im dionysischen Frühling schließen die Menschen einen reinen Bund mit der Natur

Im dionyschen Frühling finden die Menschen der antiken Dörfer und Städte laut Henri Lefebvre wieder Kontakt zur elementaren Vitalität und gewalttätigen Spontaneität der schöpferischen Physis. Für Augenblicke brechen sie dann mit den Normen der Gesellschaft und Konventionen der Ethik und der Politik, indem sie einen reinen Bund mit der Natur schließen. Henri Lefebvre erklärt: „Gemeinsam mit ihr begehen sie ein Fest, spielen ein Fest: Sie ahmen – durch Tanz, Umzüge, Masken und Rasereien – die entfesselte Natur nach.“

Dieses Frühlingsfest ist für Henri Lefebvre tiefgründiger als die tragischen Komödien des Lebens in der Stadt mit ihren Gesetzen und ihrer politischen Ethik. Die in sich gefestigte Gemeinschaft bedarf zu ihrer Rechtfertigung der periodischen Zusammenbrüche. Sie wahrt die Ordnung des Kosmos, indem sie die Gesellschaftsordnung zunächst der Gefährdung aussetzt, um sie dann gestärkt wiederzufinden. Eine Zeitspanne lang, die regelmäßige wiederkehrt, setzen die Bürger die Regeln von Moral, Politik und Klarheit außer Kraft.

Der Frühling war auch einmal die Zeit der Reinheit und Jungfräulichkeit

Das Fest des Frühlings zerbricht laut Henri Lefebvre die menschliche Ordnung der Praxis. Gemeinsam mit der Natur wiederholt es die Gebärden der elementaren Bedürfnisse des Essens und des Liebens – ein überaus ernstes, ernstgemeintes Spiel. Aber der Frühling war nicht immer das Fest des Lebens, der Wollust, der Fruchtbarkeit und der Liebe, sondern erstaunlicherweise auch einmal die Zeit der Reinheit und der Jungfräulichkeit. Henri Lefebvre fügt hinzu: „Unter der Regentschaft des Mai und der Königin des Himmels, der Jungfrau Maria, gehörte dieser Monat den jungen Mädchen.“

Im Frühling fanden während dieser reinen Epoche weder Hochzeiten noch Eheverlöbnisse statt. Die Tradition der Maiandachten zu Ehren der Jungfrau Maria im rituellen Kanon der katholischen Kirche ist bis in die Gegenwart erhalten geblieben. Als Erklärung dafür bietet Henri Lefebvre die Handlung der Kirche an, die den Kult der Aphrodite und der Venus durch den Marienkult ersetzt hat. Henri Lefebvre weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass sie Riten, Bilder und Ideologien nur kraft der Aneignung dessen durchsetzen können, was vor ihnen existierte.

Kurzbiographie: Henri Lefebvre

Henri Lefebvre, der von 1901 bis 1991 lebte, war ein marxistischer Soziologe, Intellektueller und Philosoph. Lage bevor es Mode wurde, die Probleme des Alltagslebens auch für die Theorie der Philosophie, Soziologie und Ästhetik zu reklamieren, hat Henri Lefebvre die Dialektik zwischen Überbau – Kultur, Wissenschaften, Recht, Religion – und der Alltagswelt der Menschen zum Gegenstand der wissenschaftlichen Beobachtung gemacht.

Ein der aufschlussreichsten Arbeiten auf diesem Gebiet ist sein Buch „Einführung in die Modernität“ indem er Ideen, Symbole, menschliche Ausdrucksweisen und Einstellungen betrachtet, die das mitkonstituiert haben, was heute moderne Gesellschaft heißt. Henri Lefebvre zeigt einen Zusammenhang zwischen Handlungen und Problemen auf, in dem die Menschen sich wiedererkennen und der die Findung ihrer Identität ebenso wie ihre Deutung der Welt bestimmt.

Von Hans Klumbies