Veränderung gelingt durch praktiziertes Nichteinverstandensein

Der Sozialpsychologe Harald Welzer vertritt die These, dass die Art, wie westliche Industriegesellschaften produzieren und leben, am Ende ist. Diese Gesellschaften müssten sich seiner Meinung nach radikal ändern. Doch kaum etwas passiert. Stattdessen klammern sich alle an die Gegenwart und einen Status quo. Dabei sollte doch jeder halbwegs intelligente Mensch erkennen können, dass der westliche Lebensstil nicht durchgehalten werden kann, wenn die Ressourcen weiter so systematisch übernutzt werden. Harald Welzer benennt ein grundlegendes Problem: „Wir haben keine Vorstellung mehr von einer guten Zukunft. Zukunft wird mit Abstieg gleichgesetzt. Also lieber keine Zukunft.“ Den Kapitalismus hält Harald Welzer für einen der Schuldigen an dieser Misere. Er gibt zwar zu, dass der Kapitalismus historisch einzigartig erfolgreich gewesen ist, aber die an dieses Wirtschaftssystem gekoppelten emanzipatorischen Prozesse sind nicht nur ausgeschöpft, sondern schlagen seiner Meinung nach ins Gegenteil um, weil die Warenproduktion aus dem Ruder läuft.

Es gibt kein Modell für die Zeit nach dem Kapitalismus

Harald Welzer sagt: „Das System und seine Waren nehmen den Menschen die einst gewonnen Fähigkeit, Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen, wieder aus der Hand.“ Autos, die selbst einparken und mobile Endgeräte, die alles Übrige erledigen, sind für Harald Welzer keine Entlastung, sondern Entmündigung und leerlaufende Innovationen. Der Sozialpsychologe kritisiert, dass es kein Modell für die Zeit nach dem Kapitalismus gibt, der nur auf Wachstum basiert. Aber immerhin existiert ein Wissen, dass Korrektur im Bestehenden nicht möglich ist.

Harald Welzer erklärt: „Wer Zukunft haben will, darf sie nicht vom Status quo aus begreifen. Sondern muss von einer wünschbaren Zukunft zurück in die Gegenwart denken.“ Mann muss sich dabei die Frage stellen, welche Veränderungen heute geschehen müssen, um diese Zukunft zu ermöglichen. Harald Welzer weiß natürlich auch, dass weder Wissen noch Einsicht zu anderem Handeln führen, sondern nur erlebte Praxis. Seine Botschaft lautet: Veränderung gelingt durch praktiziertes Nichteinverstandensein, auch gegenüber sich selbst.

Die Politik hat sich in den Modus des Illusionismus verabschiedet

Harald Welzer stellt folgende These auf: „Das Neue beginnt, wenn man eine Geschichte über sich erzählen kann, in der man Teil einer Gemeinschaft ist, die sich aktiv verändert.“ Man kann also in und mit einer Gesellschaft etwas verändern. Allerdings geht das nicht schnell und auch nicht so nebenbei. Es ist vielmehr ein harter Weg des Widerstands. Eine weitere Notwenigkeit für eine lebenswerte Zukunft ist laut Harald Welzer die Lokalisierung als Antwort auf die Globalisierung, um den Leitprinzipien der Gegenwart mit den Ausprobieren des Gegenteils zu antworten.

Eines der Hauptprobleme der Gegenwart ist für Harald Welzer, dass die Politik in den Modus eines verhängnisvollen Illusionismus übergegangen ist. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich dabei um die Europakrise, den Klimawandel oder die Turbulenzen an den Finanzmärkten handelt. Harald Welzer kritisiert: „Die Politik tut nur noch so, als kann und will sie gestalten. Keine Partei hat ein Programm, das den Umbau der Industriegesellschaft enthält.“ Der „Green New Deal“ der Grünen, das Versprechen eines nachhaltigen Wachstums ist für Harald Welzer eine maximal illusionistische Politik.

Von Hans Klumbies