Jede Gesellschaft ist durch eine hierarchische Ordnung gegliedert

Alle historischen Herrschaftsverbände werden durch System der sozialen Ungleichheit geprägt. Immer weist ihre Sozialstruktur eine hierarchische Ordnung auf. Die schottischen Aufklärer Adam Smith, Adam Ferguson und John Millar beschreiben die Hierarchie der sozialen Ungleichheit in engster Verbindung mit der historischen Natur des jeweils herrschenden Wirtschaftssystems. Daran haben auch bedeutende Sozialwissenschaftler wie Max Weber, Émile Durkheim, Vilfredo Pareto, Talcott Parsons und Pierre Bourdieu festgehalten. Hans-Ulrich Wehler weist darauf hin, dass für die schottischen und englischen Sozialtheoretiker des ausgehenden 18. Jahrhunderts der Zerfall der überkommenen Ständeordnung unter dem Druck der voranschreitenden kapitalistischen Marktwirtschaft als Schlüsselerfahrung im Vordergrund stand. Sie erkannten den unauflöslichen Zusammenhang zwischen Wirtschafts- und Sozialverfassung, der wie eine Art von historischem Zwillingsphänomen wirkte. Hans-Ulrich Wehler war bis zu seiner Emeritierung Professor für Allgemeine Geschichte an der Universität Bielefeld. Sein Hauptwerk ist die fünfbändige „Deutsche Gesellschaftsgeschichte“.

Das Bürgertum überwindet im Zeichen des Kapitalismus den Feudalismus

Karl Marx geht von der Prämisse aus, dass der Produktionsprozess im Stoffwechsel mit der Natur, der die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse und die Sicherung der Existenz ermöglicht, den Kern des gesellschaftlichen Lebens ausmacht. In der europäischen Geschichte wird damals der Produktionsprozess zunehmend vom Siegeszug des Bürgertums bestimmt. Hans-Ulrich Wehler erklärt: „Mit ihm entsteht eine neuartige Sozialformation, die wirtschaftliche Autonomie auf der Basis privater Eigentumsrechte gewinnt.“

Das Bürgertum übt die politische Selbstverwaltung in den Städten aus, bestimmt den Nah- und Fernhandel, kontrolliert die gewerbliche Produktion und kommerzialisierte Landwirtschaft und sammelt Kapital an, das für weitere Investitionen geeignet ist. Dem Bürgertum gelingt es laut Hans-Ulrich Wehler im Zeichen des Kapitalismus den Feudalismus zu überwinden, den Weltmarkt zu erschließen und erstmals eine globale Weltgeschichte auf die Beine zu stellen.

Lorenz von Stein war ein früher Theoretiker des modernen Sozialstaats

Lorenz von Stein, ein Zeitgenosse von Karl Marx, der drei Jahrzehnte Ökonomieprofessor an der Universität Wien war, entwickelte eine elastische Klassentheorie, um die sozialen Ungleichheiten erfassen zu können. Hans-Ulrich Wehler erläutert: „Seine Kategorien, etwa die der besitzenden, erwerbenden, eigentumslosen Klassen, der Berufsklassen und der Gesellschaftsklassen, ermöglichten eine realitätsnahe Analyse.“ Lorenz von Stein erkennt zwar den fundamentalen Gegensatz zwischen privilegierten und strukturell benachteiligten Klassen an, billigt aber auf keinen Fall zur Aufhebung dieses Unterschieds so etwas wie einen Klassenkampf.

Lorenz von Stein plädierte dafür, die mächtigste menschliche Institution, den Staat, als aktiv ausgleichenden Schiedsrichter einzuschalten, um den Wohlstandsausgleich und damit den inneren Frieden zu gewährleisten. Durch diese Ideen wurde Lorenz von Stein zu einem frühen Theoretiker des modernen Sozialstaats, dem bisher die Regulierung und Zähmung der sozialen Konflikte gelungen ist. Lorenz von Stein hegte eine starke Skepsis gegen Endzeitutopien und redete mit großer Überzeugungskraft der pragmatischen staatlichen Reformpolitik das Wort.

Von Hans Klumbies