Die soziale Ungleichheit in Deutschland nimmt dramatisch zu

Hans-Ulrich Wehler stellt in seinem Buch „Die neue Umverteilung“ die Diagnose, dass Deutschland ein Land der exzessiven Hierarchisierung geblieben ist. Das heißt, der Fahrstuhl führt nur für wenige nach oben, aber für immer mehr nach unten. Zudem hat Hans-Ulrich Wehler herausgefunden, dass die obersten fünf Prozent der Sozialpyramide enorm begünstigt werden, während die Lebensbedingungen und Einkommen der Mittelschicht und erst recht der Unterschichten stagnieren oder sich verschlechtern. Dazu kommt ein politisches Problem: „Mit verschärfter Ungleichheit wird, über kurz oder lang, die Legitimationsgrundlage des politischen Systems durch wachsende Zweifel in Frage gestellt.“ Der Autor ist davon überzeugt, dass das Thema „Soziale Gerechtigkeit“ zum Dauerbrenner der innenpolitischen Diskussion in den kommenden Jahren aufsteigen wird. Hans-Ulrich Wehler war bis zu seiner Emeritierung Professor für Allgemeine Geschichte an der Universität Bielefeld. Sein Hauptwerk ist die fünfbändige „Deutsche Gesellschaftsgeschichte“.

Nur der moderne Staat kann die Distanz der Ungleichheit verringern

Hans-Ulrich Wehler hält die verbreitete Vorstellung für einen Irrglauben, dass die Märkte einer Wachstumsgesellschaft von sich aus für eine gleichmäßige Verteilung des Wohlstandes sorgen. Verringern kann die Distanz der Ungleichheit seiner Meinung nach nur ein mächtiger Akteur: der moderne Staat. Wenn Hans-Ulrich Wehler von „Sozialer Ungleichheit“ spricht, meint er vor allem die politisch und rechtlich fundierte Ausübung der Macht kleiner Eliten, die sich in einem Maße ein Einkommen und Vermögen verschaffen, die sie von der Lebenswelt ihrer Mitarbeiter denkbar weit abheben.

In Deutschland wächst die Ungleichheit laut einer OECD-Studie vor allem wegen der Teilzeitarbeit und der Mini-Jobs an. Inzwischen arbeiten mehr als acht Millionen Menschen in diesen Arbeitsbereichen. Ungleich schärfer noch als die Verteilung der Einkommen weisen die Vermögensverhältnisse die Ungleichverteilung und damit die Grenzen der Klassen eines in Deutschland bisher einmaligen Reichtums auf. Die deutschen Reichen waren in der unmittelbaren Gegenwart noch nie so reich.

Die Gesundheitsrisiken sind in den Unterklassen deutlich stärker verbreitet

Hans-Ulrich Wehler analysiert in seinem Werk „Die neue Umverteilung“ unter anderem die Ungleichheiten in der deutschen Wirtschaftselite, den Heiratsmärkten, bei den Alten und Bildungschancen. Auch bei Gesundheit und Krankheit stellt der Autor eine Ungleichheit fest. Er schreibt: „Allgemein gilt, dass die Gesundheitsrisiken in der einkommensschwachen Bevölkerung deutlich stärker verbreitet sind. Das geht bis hin zur zwei-, dreifach erhöhten Sterblichkeit der Unterklassen.“

Als realistische Politik kann laut Hans-Ulrich Wehler nur die Abmilderung einer allzu krass ausgeprägten Hierarchie gelten. Denn auf die Mobilisierungsdynamik, die eine unverzichtbare Differenzierung vorantreibt und aufrechterhält, kann der pragmatisch klug handelnde Interventions- und Sozialstaat nicht verzichten. Das gilt seiner Meinung nach auf für die von vielen Dimensionen der Ungleichheit geprägten Gesellschaft der Bundesrepublik und die von ihr betriebene Politik.

Die neue Umverteilung
Soziale Ungleichheit in Deutschland
Hans-Ulrich Wehler
Verlag: C. H. Beck
Broschierte Ausgabe: 192 Seiten, Auflage 2: 2013
ISBN: 978-3-406-64386-6,  14,95 Euro
Von Hans Klumbies