George Steiner kämpft gegen die Sinnzerstörer

Der Philosoph George Steiner hat einmal über seine Zunft gesagt, dass sie Flöhe im Pelz der Löwen seien. Der große Denker ist von einer grundlegenden weltanschaulichen Perspektive geprägt: dass die heutige Menschheit zu den Spätgeborenen zählt und die wirklich großen Leistungen auf dem Gebiet des Denkens und der Künste in der Vergangenheit liegen. Die gegenwärtigen Philosophen und Künstler leben in dürren Zeiten und sind höchstens der Epilog einer einst vitalen Hochkultur. Sie gehören einem byzantinischen Zeitalter an, das nichts mehr Eigenes schafft, sondern nur die Überlieferungen kommentiert. Sie sind für George Steiner melancholische Bewohner der Abenddämmerung, die in die untergehende Sonne blinzeln. Die einzige vertretbare Haltung gegenüber den Kulturmonumenten der Vergangenheit ist deshalb die Demut.

George Steiner ist ein Kosmopolit des Geistes

George Steiner schert sich nicht im Geringsten darum, wenn ihn seine Kritiker als einen lupenreinen Kulturpessimisten beschimpfen. Denn er glaubt nicht daran, dass im nächsten Moment ein neuer William Shakespeare oder Michelangelo Buonarroti auf der Weltbühne in Erscheinung treten könnte. Man könnte auch sagen, dieser kulturpessimistische Philosoph steht über den Dingen.

George Steiner, der auf die bedeutendsten Lehrstühle der berühmtesten Universitäten – von Princeton bis Cambridge, vom Collège de France bis Oxford – berufen wurde, wird von seinen Anhängern als Ausnahmefigur bewundert. Er stellt für sie eine große lebende Synthese dar, in der die Epochen, die Kulturen und die Wissenschaftsdisziplinen zusammenfließen. Der Geistes-Kosmopolit George Steiner hat schon immer die partikularistischen Grenzen der Nationen verlacht und verbindet in seiner Biografie das Jüdische, das Europäische und die Neue Welt auf eine einzigartige Weise.

George Steiner erforscht das Mysterium der Sprache

Er versteht sich als ein Bewohner des universellen und unteilbaren Reichs des Geistes. Deswegen kümmert er sich nicht um die Spezialisierung in den Wissenschaften. Er ist sowohl in der Welt eines Niels Bohr als auch in der des Parmenides zu Hause. Seine Bewunderer bezeichnen den großen Philosophen als die letzte Inkarnation eines ansonsten untergegangenen Alteuropas.

In seinem neuen Essayband „Die Logokraten“ sagt George Steiner in einem Interview, dass eine Gesellschaft, die Sätze für unsinnig halte, in denen das Wort Gott vorkomme, nur noch sehr kleine Brötchen backe. Im Wesentlichen geht es aber in dem Buch darum, sich dem Mysterium der Sprache zu nähern. Antworten, die von der modernen Linguistik oder der Hirnforschung gegeben werden, weist er dabei weit von sich.

Die Entstehung der Sprache ist für George Steiner ein Phänomen, das sich nicht wissenschaftlich-evolutionstheoretisch herleiten lässt. Dass es in der Welt so etwas wie Sprache und Sinn gibt, ist für ihn kein empirisches, sondern ein transzendentes Faktum. Die Logokraten sind für ihn jene Seinsdenker von Joseph Marie de Maistre bis Martin Heidegger, die am göttlichen Ursprung der Sprache nicht zweifeln. Auf dieser Traditionslinie wandelt auch George Steiner in seinem Abwehrkampf gegen die Sinnzerstörer.

Von Hans Klumbies