Mangelnde Selbstaufmerksamkeit kann zu Leiden aller Art führen

Es gibt Ebenen der Selbstregulierung, die Aufmerksamkeit benötigen. Die übermäßige Anspannung der Muskeln bemerkt man zum Beispiel oft erst, wenn es infolge der Spannung zu Schmerzen kommt. Besonders wesentlich ist Selbstaufmerksamkeit da, wo sich negative Gefühle in einem Menschen aufbauen. Wo man genervt ist, unter Druck gerät, Zorn zu empfinden beginnt. Georg Milzner erläutert: „Wird diesen sich aufbauenden Gefühlen keine Aufmerksamkeit zuteil, so fehlt uns die Möglichkeit, die Situation zu verändern. In der Folge kommt es zu Gefühlsausbrüchen, die dann etwas Unkontrolliertes bekommen.“ Primäre Selbstaufmerksamkeit nimmt Veränderungen wie diese wahr. Wer über primäre Aufmerksamkeit verfügt, der steht auf und lockert sich, ehe es zu Verspannungen kommt. Und bringt Gefühle frühzeitig zum Ausdruck, ehe sie zu Explosionen oder Implosionen führen. Georg Milzner ist Diplompsychologe und arbeitet in eigener Praxis als Psychotherapeut.

Übermäßige Außenorientierung führt zum Verlust seelischer Tiefe

Wo primäre Selbstaufmerksamkeit aber fehlt, ergibt sich das komplementäre Bild. Psychosomatische Leiden entstehen; chronische Verspannungen etwa, die zu Schmerzen führen, oder Schwindelattacken infolge von Fehlhaltungen oder Bluthochdruck. Georg Milzner ergänzt: „Oder aber, nicht wahrgenommene Emotionen führen, übermäßig gestaut, zu plötzlichen, rätselhaften Weinkrämpfen, zu Wutausbrüchen und endlich, wo keine Entladung mehr möglich ist, zu Rückzug und depressiver Verstimmung.“

Beim Verlust seelischer Tiefenwahrnehmung geht es über das Nachdenken über die eigene Persönlichkeit, das tiefe in sich Hineinfühlen, das Beachten wiederkehrender Gedanken, Fantasien und Träume. Wer sich als Folge übermäßiger Außenorientierung von alledem loskoppelt, der wird einen Verlust seelischer Tiefe erleben. Die Bezeichnung „tief“ benutzt man da, wo etwas einen Menschen und ungewöhnlicher Weise erreicht und damit gleichsam einen Lebensnerv anrührt. So kann man tief berührt, aber auch tief enttäuscht sein.

Tiefe Gefühle sind von besonderer Exklusivität

Was hier angesprochen wird, ist eine Erfahrung, die zugleich von emotionaler Intensität und besonderer Exklusivität ist. Was hier gemeint ist, geschieht einem nicht immer. Und gewinnt hieraus einen besonderen Wert. Einen Wert, der darin besteht, zum Sein eine andere Beziehung zu haben. Eine tiefere eben. Was fehlt einem Leben, das keine Tiefe hat? Der Begriff legt es schon nahe: Es fehlt die dritte Dimension. Wo die seelische Tiefenerfahrung fehlt, da entsteht ein übermäßiges Bedürfnis nach äußerer Reizung.

Der Verlust der Tiefenwahrnehmung geht an das Lebensgefühl selbst. Georg Milzner erklärt: „Lustlosigkeit, Sinnverlust, Depression, Leeregefühle, Zynismus – alle diese Symptome gehören hierher. Nicht ein Zuviel, sondern ein Zuwenig wird empfunden.“ Ein Mensch der dagegen an chronischer Überreizung leidet, verarbeitet in einem fort Informationen, geht Themen durch, erstellt Pläne und durchdenkt Strategien. Wesentlich ist, dass dies alles im Kopf stattfindet – es gibt keine Aufmerksamkeit für den Körper und keinen tieferen Gefühlskontakt. Quelle: „Wir sind überall, nur nicht bei uns“ von Georg Milzner

Von Hans Klumbies