Äsop ist das Vorbild für alle Fabeldichter

Die Fabel erlebte im 18. Jahrhundert den Höhepunkt ihrer mehr als zweitausendjährigen Entwicklung. Bereits im 6. Jahrhundert vor Christus schrieb der griechische Sklave Äsop die ersten Fabeln, die Vorbild für alle nachfolgenden Fabeldichter wurden und deren Wirkung bis in die Modere reicht. Schon in ihren Anfängen war die Fabel eine literarische Kampfform. Äsop sah in ihr nach der Aussage von Phädrus, der die äsopischen Fabeln im 1. Jahrhundert nach Christus bearbeitete, „ein passendes Mittel, da auf eine versteckte Weise die Wahrheit zu sagen, wo man nicht wagen durfte, es offen zu tun“. In Deutschland wurden seit dem Mittelalter Fabeln geschrieben. Einen ersten Höhepunkt ihrer Entwicklung erreichte die Fabel in der Reformationszeit, wo sie insbesondere von Martin Luther als Mittel in der politisch-religiösen Auseinandersetzung eingesetzt wurde.

Die Fabel war für die aufklärerische Zielsetzung besonders geeignet

Die Barockdichter im 17. Jahrhundert hatten nur wenig Interesse an der Literaturgattung. In der Zeit von 1600 bis 1730 erschienen fast keine neuen Fabeln. Die Fabel wurde als Dichtung für den „gemeinen pövel“ und als Zeitvertreib „für Kinder und alte Weiber“ abgelehnt. In extremen Gegensatz zu solchen abschätzigen Auffassungen steht das hohe Ansehen, das sie im Zeitalter der Aufklärung genoss. Zwischen 1730 und 1800 erschienen weit über 50 Fabelsammlungen, darunter von so angesehenen Autoren wie Gotthold Ephraim Lessing, der auch eine eigene Fabeltheorie (1759) vorlegte.

Als Beispiel der praktischen Sittenlehre erschien sie den Schriftstellern des 18. Jahrhunderts wegen ihres lehrhaften Charakters, ihrer Kürze, ihrer einfachen Struktur und ihrer einprägsamen Bildlichkeit für die aufklärerische Zielsetzung besonders geeignet. In keiner anderen Gattung konnten in so komprimierter Weise Vergnügungen und Nutzen verbunden werden. Themen, Aufbau und Form der Fabel fielen dabei sehr unterschiedlich aus, das Strukturprinzip war jedoch immer das Gleiche: Durch die Übertragung menschlicher Verhaltensweisen oder gesellschaftlicher Missstände auf die beseelte und unbeseelte Natur wurde eine allgemein anerkannte Wahrheit auf witzig-satirische oder moralisch-belehrende Weise veranschaulicht.

La Fontaine hat die Fabel zu einer anerkannten Kunstform entwickelt

Viele Fabeldichter griffen auf antike Vorlagen zurück, erzählten sie für ihre Zeit neu oder gestalteten sie um. Wichtig war auch der Einfluss von La Fontaine (1621 – 1695), der die Fabel zu einer anerkannten Kunstform entwickelt hatte und dessen Erzählstil für viele deutsche Fabeldichter vorbildlich wurde. Neben Übersetzungen, Bearbeitungen, Umwandlungen entstand jedoch auch eine Fülle von Neuschöpfungen. Deutlich lassen sich verschiedene Entwicklungen in der Fabelliteratur des 18. Jahrhunderts erkennen.

In der frühen Aufklärung vermittelt die Fabel vorwiegend moralische Lehren und die neuen aufklärerischen Prinzipien, nach 1750 erweitert sich die moralische Kritik zunehmend zur sozialen Kritik, und gegen Ende des Jahrhunderts verlagert sie sich auf die direkte politische Kritik an den Handlungen feudal-absolutistischer Herrscher und ihres Machtapparats. Ein später Nachfahr der aufklärerisch-didaktischen Fabelliteratur ist Johann Peter Hebel (1760 – 1826), der mit seinen bewusst populär gehaltenen Geschichten eine unterhaltende, volksnahe Literatur schuf. Quelle: „Deutsche Literaturgeschichte“ aus dem Verlag J. B. Metzler

Von Hans Klumbies