Die Liebe ist ein bevorzugter Ort der Utopie

Die ewige Macht der Liebe lässt sich, wenn auch nur teilweise, aus der Tatsache erklären, dass die Liebe ein bevorzugter Ort utopischer Erfahrung ist. Eva Illouz fügt hinzu: „In den kapitalistischen Gesellschaften enthält die Liebe eine utopische Dimension, die sich nicht einfach auf „falsches Bewusstsein“ oder auf den angeblichen Einfluss der „Ideologie“ auf die menschlichen Sehnsüchte reduzieren lässt.“ Im Gegenteil, die Sehnsucht nach einer Utopie, die den Kern romantischer Liebe bildet weist tief reichende Affinitäten zur Erfahrung des Heiligen auf. Wie Durkheim gezeigt hat, ist diese Erfahrung nicht aus der säkularen Gesellschaft verschwunden, sondern hat sich aus der Sphäre der Religion auf andere kulturelle Bereiche verlagert. Einer dieser Bereiche ist die romantische Liebe. Die Soziologin Eva Illouz ist seit dem Jahr 2006 Professorin für Soziologie an der Hebrew University in Jerusalem.

Die romantische Liebe verliert an Bedeutung

Paradoxerweise kam es gerade zu der Zeit zur „Säkularisierung“ einer säkularisierten Liebe, als die Liebesbezeichnung diejenigen Bedeutungen verlor, die sie lange aus der institutionellen Religion entliehen hatte. Eva Illouz weiß: „An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war die romantische Liebe kein „Altar“ mehr, an dem die Liebenden eine kultische „Weihehandlung“ vollzogen, die man in Begriffe christlicher Frömmigkeit fasste. Indem sie säkularisiert wurde, nahm die Liebesbeziehung die Eigenschaften des Rituals an.“

Die Liebesbeziehung schöpfte zunehmend aus Themen und Bildern, die einen temporären Zugang zu einer machtvollen kollektiven Utopie von Überfluss, Individualität und schöpferischer Selbsterfüllung boten, und diese utopischen Bedeutungen erfuhr man mittels des zyklischen Vollzugs von Konsumritualen. Die romantische Liebe geht dem Kapitalismus als solchem voraus, bringt aber gleichzeitig zwei Leitmotive zum Ausdruck, die später in den zentralen Ideologemen des Kapitalismus ihren Widerhall finden.

Die romantische Liebe beharrt auf dem Vorrang der Gefühle

Das eine betrifft die Souveränität des Individuums gegenüber der Gruppe, diese Souveränität zeigt sich in der unerlaubten Wahl des Sexualpartners und in der Weigerung des Liebenden, sich gegenüber den von der Gruppe gesetzten Heiratsregeln konform zu verhalten. Das andere Leitmotiv betrifft die für die bürgerliche Ideologie zentrale Unterscheidung zwischen Interesse und Gefühlen, Selbstsucht und Selbstlosigkeit, die in der Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Sphäre verkörpert ist.

In dieser Unterscheidung beharrt die romantische Liebe auf dem Vorrang der Gefühle vor sozialen und ökonomischen Interessen, der Zuneigung vor dem Profit, des Überflusses vor den durch die Akkumulation verursachten Verlusten. Indem sie den Supremat der menschlichen Beziehungen, die geleitet sind von der interessenlosen Hingabe der eigenen Person, verkündet, feiert die Liebe nicht nur die Verschmelzung individueller Seelen und Körper, sondern eröffnet auch die Möglichkeit einer anderen gesellschaftlichen Ordnung. Die Liebe vermittelt damit eine Aura der Transgression, sie verspricht und fordert eine bessere Welt. Quelle: „Der Konsum der Romantik“ von Eva Illouz in „Was ist Liebe?“

Von Hans Klumbies