Die Epoche der Gegenwart heißt Anthropozän

Die Geschichte der Entwürfe eines Neuen Menschen ist eine Geschichte der Selbstermächtigungen. In ihrem Kern geht es um das Projekt einer Überschreitung von menschlichen Grenzen: seien es die seiner Bewegung im Raum, die Limitiertheit seiner Lebenszeit oder die Einschränkungen seiner Wahrnehmungs- und Denkfähigkeiten. Eva Horn erklärt: „Die Imperative dieses Steigerungsprogramms reichen vom Gebot eines „Ausgangs des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ über die Anthropotechniken der Fremd- und Selbstdisziplinierung und die biopolitischen Träume einer forcierten Evolution bis zu den Versprechen einer technischen Auf- und Umrüstung des menschlichen Körpers und Geistes.“ Was sie hinter sich lassen, ist eine doppelte Natur: einerseits eine Natur des Menschen, die zur anthropologischen Grundausstattung erklärt wird, welche es zu überwinden oder zu erweitern gilt. Eva Horn ist Professorin für Neuere Deutsche Literatur und Kulturtheorie an der Universität Wien.

Selbstoptimierung soll die Menschen von der Natur unabhängig machen

Andererseits eine nichtmenschliche Natur – wie zum Beispiel Räume, Ressourcen, Dinge, andere Lebewesen –, die in diesem Selbstermächtigungsprojekt bestenfalls im Hintergrund auftaucht, vor dem sich die Souveränität des Menschen umso deutlicher abhebt. Eva Horn erläutert: „Selbststeigerung und Selbstoptimierung bedeuten gesteigerte Unabhängigkeit von einer Natur, die als passive Substanz, Begrenzung und stille Bühne menschlicher Selbstentwürfe verstanden wird.“ Diese Vorstellung hat neuerdings eine ironische Wende bekommen.

Diese Wende firmiert ebenfalls unter den Stichworten des „Menschlichen“ und des „Neuen“: die Rede ist vom Anthropozän. Diese Epoche, in der der Mensch sich unauslöschlich in die geologische Geschichte der Erde eingeschrieben hat, impliziert einen Neuen Menschen ganz anderer Art: einen Menschen, der sich nicht mehr von der Natur emanzipiert, sondern der sich darüber Rechenschaft ablegt, dass ihn diese Emanzipation umso tiefer mit ihr verstrickt hat. 2002 wurde der Begriff vom Atmosphärenchemiker Paul Crutzen als neue Epochenbezeichnung der Gegenwart vorgeschlagen und seither intensiv diskutiert.

Das Anthropozän ist eine Geschichte von Triumph und Katastrophe

Ironisch ist das Anthropozän, weil es einen Triumph des Menschen und seiner technologischen und biologischen Selbstermächtigungen in eine verheerende Niederlage verwandelt. Der Mensch ist nicht so sehr zum Herrn über die Natur geworden, wie das Ermächtigungsprogramm des „homo faber“ es einst versprochen hatte, sondern zur Naturgewalt selbst, einer katastrophischen Gewalt, die den Kräften von Vulkanausbrüchen, Plattentektonik oder Kometeneinschlägen in nichts nachsteht. Das Anthropozän ist eine Geschichte von Triumph und Katastrophe, Beherrschung und Kontrollverlust.

Das Anthropozän ist die Geschichte eines Erfolgs, der in eine Vielzahl von desaströsen Eskalationen umschlägt. Der Gegenstand, an dem die Wirkungsweise des Menschen im Anthropozän am sinnfälligsten wird, ist das Klima. Die massive Anreicherung der Erdatmosphäre mit Treibhausgasen und ihre Begleiterscheinungen sind Elemente eines Gefüges, das zugleich hyperkomplex und abstrakt ist. Klima kann man nicht wahrnehmen. Die Menschen haben keinen phänomenalen Zugang zu einem globalen Klima, denn da kann kein Mensch erfahren. Und sie haben auch keinen Erfahrungszugang zu den schleichenden Veränderungen, die die Wissenschaft derzeit dokumentiert – außer an Fallbeispielen wie schmelzenden Gletschern. Quelle: „Neue Menschen“ von Konrad Paul Liessmann (Hrsg.)

Von Hans Klumbies