Essen hat sich zu einer Ersatzreligion entwickelt

Kaum etwas ist den Deutschen so heilig wie ihr Essen, oder besser gesagt wie das, was sie nicht essen. Die Zahl der Menschen, die sich verweigern, wächst ständig: dem Fleisch, dem Fisch, den tierischen Eiweißen, dem Gluten, der Laktose, den Kohlenhydraten. Kaum einer Handlung des Alltags wird inzwischen größere Bedeutung zugemessen als der täglichen Aufnahme der Nahrung. Der Vegetarierbund Deutschland (Vebu) vermeldet stolz die Zahl von 7,8 Millionen Vegetariern und fordert die Nutzer seiner Website zur Unterstützung auf: „Verändern Sie mit uns die Welt! Schaffen Sie einen wertvollen Wandel in der Gesellschaft.“ Starkoch Vincent Klink dagegen meint: „Es müsste ein Missionierungsverbot geben für Religion und Essen.“ Tatsächlich hat sich beim Essen etwas ganz grundsätzlich verschoben. Auf der einen Seite sind so viele, so sichere und so billige Lebensmittel vorhanden wie noch nie.

Knapp 60 Prozent der deutschen Männer sind übergewichtig

Der Wohlstand der Bundesrepublik Deutschland erlaubt es fast jedem, sich gesund, ausgewogen und vor allem ausreichend zu ernähren – was noch vor wenigen Jahren keineswegs selbstverständlich war. Viele Deutsche essen auch „on the go“, im Zug, im Bus, beim Laufen. Zuhause gekocht wird dafür weniger. Aber wenn, dann mit großem Aufwand. Der Überfluss tut allerdings den Essern nicht unbedingt gut, denn noch nie waren die Deutschen so dick wie derzeit: Knapp 60 Prozent der Männer sind übergewichtig, bei den Frauen sind es immerhin 37 Prozent.

Gleichzeitig wächst die Zahl der Verweigerer, der Menschen, die auf laktosebefreite Zonen bestehen, die abends keine Kohlehydrate zu sich nehmen oder nur noch Gemüsesäfte trinken. Der Begriff Ernährung, so scheint es, hat sich weit von seiner eigentlichen Bedeutung entfernt. Sich zu ernähren heißt in erster Linie, den Körper zur Erhaltung der Lebensfunktion mit der ausreichenden Menge an Energie, Vitaminen, Mineralien und Nährstoffen zu versorgen. Ernährung dient als Energiequelle für alle Erscheinungen des Lebens wie Körperwärme, Muskeltätigkeit und Stofftransport.

Essen gibt den Menschen Orientierung und Identität

Und die Ernährung ist natürlich verantwortlich für den Aufbau des Körpers beim Wachstum. Wissenschaftlich ist einigermaßen geklärt, was ein durchschnittlicher Körper so braucht: wenig Zucker und Alkohol; nicht viel Fett; ein bisschen Eiweiß wie in Fisch, Fleisch, Milch oder Soja; dazu Ballaststoffe, zum Beispiel in Form von Vollkornbrot oder ungeschältem Reis; sowie viel Obst und vor allem Gemüse. Das wäre eine klassische Ernährungspyramide, sie gilt so oder so ähnlich seit Jahrzehnten.

Und doch wird sie ständig ignoriert. Und zwar oft auch von denen, die sich so viele Gedanken um die korrekte Ernährung machen. Warum essen die Menschen so, wie sie essen? Die Antwort liegt eigentlich auf der Hand: weil Essen den Menschen Orientierung und Identität gibt. Inzwischen gilt: „Sage mir, was du isst, und ich sage dir, wer du bist.“ Die Art der Ernährung lässt nicht nur Rückschlüsse auf den Bildungsgrad und den sozioökonomischen Status zu, sie demonstriert auch eine politische Haltung, ist Ausdruck für ein bestimmtes Weltbild. Quelle: Der Spiegel

Von Hans Klumbies