Für Erich Fromm sind viele Menschen weder lebendig noch tot

Erich Fromm glaubt, dass die grundlegende Alternative des Menschen die Wahl zwischen Leben und Tod ist. Bei allem, was der Mensch tut, muss er diese Entscheidung treffen. Bei der Wahl ist er frei, allerdings nur in begrenztem Maß. Erich Fromm nennt Gründe für diese Einschränkung: „Es gibt zahlreiche günstige und ungünstige Bedingungen, die ihn beeinflussen: seine psychologische Konstitution, die speziellen Bedingungen der Gesellschaft, in die er hineingeboren wurde, seine Familie, seine Lehrer und die Freunde, denen er begegnet und die er sich auswählt.“ Laut Erich Fromm ist es die Aufgabe des Menschen, seinen Raum der Freiheit zu erweitern und sich um Bedingungen zu bemühen, die zum Leben und nicht zum Tode führen. Mit Leben und Tod meint Erich Fromm keinen biologischen Zustand, sondern eine Verfasstheit des Seins, in dem die Art der Beziehung zur Welt zum Ausdruck kommt.

Weder das Leben noch die Geschichte hat einen letzten Sinn

Leben bedeutet für Erich Fromm ständige Veränderung, immerwährende Geburt. Tod bedeutet Aufhören des Wachsens, Verknöcherung, Wiederholung. Es ist seiner Meinung nach das traurige Schicksal vieler Menschen, dass sie keine Wahl treffen. Sie sind weder lebendig noch tot. Erich Fromm fügt hinzu: „Das Leben wird ihnen zur Last, zu einem ziellosen Unterfangen, und ihre Geschäftigkeit ist eine Schutzmaßnahme gegen die Qual, ein Schattendasein zu führen.“

Erich Fromm vertritt die These, dass weder das Leben noch die Geschichte einen letzten Sinn hat, der seinerseits dem Leben des einzelnen Individuums Bedeutung verleihen oder sein Leiden rechtfertigen könnte. Angesichts der Widersprüche und Schwächen, die der Existenz der Menschen anhaften, ist es für Erich Fromm nur zu natürlich, dass er nach einem Absoluten sucht. Dieses soll ihm die Illusion der Gewissheit geben und die Last der Konflikte, des Zweifels und der Verantwortung von seinen Schultern nehmen.

Nur der Mensch selbst kann für sein Leben ein Ziel finden

Aber kein Gott, weder im theologischen noch im philosophischen noch auch im historischen Gewand, errettet oder verdammt den Menschen. Nur der Mensch allein kann laut Erich Fromm für sein Leben ein Ziel und die Mittel zur Verwirklichung dieses Ziels finden. Erich Fromm ergänzt: „Er kann keine rettenden letzte Antwort finden, aber er kann nach einer Intensität, Tiefe und Klarheit des Erlebens streben, die ihm die Kraft verleiht, ohne Illusionen zu leben und frei zu sein.“

Erich Fromm vertritt die These, dass niemand seinen Mitmenschen „retten“ kann, indem er die Entscheidung für ihn trifft. Was ein Mensch für den anderen tun kann, beschränkt sich darauf, ihm wahrheitsgetreu und liebend und frei von Sentimentalität oder Illusionen die Alternativen vor Augen zu stellen. Die Konfrontation mit den wahren Alternativen kann in einem Menschen alle verborgenen Energien wecken und ihn in die Lage versetzen, sich für das Leben und gegen den Tod zu entscheiden.

Kurzbiographie: Erich Fromm

Erich Fromm wurde am 23. März 1900 in Frankfurt am Main geboren. Vor seinem Jurastudium an der Frankfurter Universität beschäftigte er sich stark mit dem Talmud. Da er sich mit dem Studium der Rechte nicht sehr anfreunden konnte, ging er nach Heidelberg um Soziologie zu studieren. 1922 promovierte er mit einer Dissertation über „Das jüdische Gesetz“. 1926 heiratet er die Psychiaterin Frieda Reichmann und absolvierte eine psychoanalytische Ausbildung. 1929 wurde Erich Fromm zum Mitbegründer des Süddeutschen Instituts für Psychoanalyse in Frankfurt.

Im Jahr 1933 hielt Erich Fromm Gastvorlesungen an der Universität von Chicago und ließ sich ein Jahr später in New York nieder. 1941 erschien sein Buch „Die Furcht vor der Freiheit“, durch das er berühmt wurde. 1947 publizierte er sein bedeutendes Werk „Psychoanalyse und Ethik“. 1951 wurde Erich Fromm Professor für Psychoanalyse an der Autonomen Universität von Mexiko. 1955 erschien sein drittes Hauptwerk „Der moderne Mensch und seine Zukunft“. Seinen größten publizistischen Erfolg erzielt Fromm allerdings mit seinem Buch „Die Kunst des Liebens“ (1956). Sehr bekannt geworden ist auch sein Spätwerk „Haben oder sein“ von 1976. Erich Fromm der seit 1974 in Locarno, in der Schweiz, lebte, starb am 18. März 1980.

Von Hans Klumbies