Erich Fromm beschreibt die Entwicklung Deutschlands nach 1871

Deutschland, der Nachzügler unter den großen westlichen Industrienationen, erlebte nach 1871 seinen aufsehenerregenden Aufstieg. Schon im Jahr 1895 hatte die deutsche Stahlproduktion diejenige Englands erreicht, und 1914 war Deutschland bei der Herstellung von Stahl England und Frankreich weit überlegen. Deutschland besaß laut Erich Fromm ein äußerst leistungsfähiges Industriesystem, wozu seine rational denkende, strebsame und gebildete Arbeiterschaft wesentlich beitrug. Allerdings besaß Deutschland nicht genügend Rohstoffe und hatte nur wenige Kolonien. Erich Fromm fügt hinzu: „Um sein wirtschaftliches Potential maximal zu realisieren, musste es sich ausdehnen, es musste Gebiete erobern, die in Europa und Afrika über Rohstoffe verfügten.“ Gleichzeitig besaß Deutschland ein Offizierkorps, das in der Tradition Preußens ausgebildet worden war und sich durch Disziplin, Loyalität und Hingabe an die Armee auszeichnete.

Das Militär und die Schwerindustrie trieb Deutschland in den Ersten Weltkrieg

Das industrielle Potential mit der ihm eigenen Tendenz sich auszuweiten war zusammen mit der Tüchtigkeit und dem Ehrgeiz des Militärs für Erich Fromm das explosive Gemisch, das Deutschland 1914 in den Ersten Weltkrieg hineinführte. Erich Fromm erläutert: „Die deutsche Regierung unter Theobald von Bethmann-Hollweg suchte zwar nicht den Krieg, doch wurde sie durch die Militärs hineingetrieben. Bereits drei Monate nach Kriegsbeginn akzeptierte sie die Kriegsziele, welche die Vertreter der Schwerindustrie und der Großbanken ihr unterbreiteten.“

Diese Kriegsziele waren laut Erich Fromm mehr oder weniger die gleichen, wie sie der Alldeutsche Verband gefordert hatte, der seit den neunziger Jahren die treibende Kraft in den Kreisen der deutschen Industrie war. Es ging dabei im Wesentlichen um die französischen, belgischen und luxemburgischen Kohle- und Eisenvorräte, um Kolonien in Afrika und einige Gebiete im Osten von Europa. Deutschland verlor zwar den Krieg, aber dieselben Industriellen und Offiziere blieben trotz der Revolution, die ihren Einfluss für kurze Zeit zu gefährden schien, an den Hebeln der Macht.

Die Generäle unterstützen Adolf Hitler bei seinen Plänen für den Krieg von 1939

Schon in den dreißiger Jahren hatte Deutschland die Vormachtstellung in Europa, die es vor 1914 innegehabt hatte, wieder zurückgewonnen. Doch die große Wirtschaftskrise mit ihren sechs Millionen Arbeitslosen bedrohte das gesamte kapitalistische System. Jetzt schlug die Stunde der Nazis mit ihrem angeblich antikapitalistischen Parteiprogramm. Erich Fromm ergänzt: „Die Industriellen, Bankiers und Generäle gingen auf Adolf Hitlers Angebot ein, die Parteien der Linken und die Gewerkschaften zu zerschlagen, in Deutschland einen nationalistischen Geist zu wecken und eine neue, starke Armee aufzubauen.“

Die einzige Nazi-Macht, die für die Industriellen und die Armee eine Gefahr hätte bedeuten können, die SA, wurde im Jahr 1934 durch die Liquidierung  ihrer Führer praktisch vernichtet. Adolf Hitler wollte das gleiche Programm verwirklichen, wie es Erich Ludendorff im Sinn gehabt hatte. Schließlich gelang es ihm, seine Generäle von der Richtigkeit seiner militärischen Pläne zu überzeugen. Er gewann ihre Unterstützung für den Krieg von 1939, der die gleichen Ziele verfolgte, wie der Kaiser Wilhelm II. sie 1914 angestrebt hatte.

Kurzbiographie: Erich Fromm

Erich Fromm wurde am 23. März 1900 in Frankfurt am Main geboren. Vor seinem Jurastudium an der Frankfurter Universität beschäftigte er sich stark mit dem Talmud. Da er sich mit dem Studium der Rechte nicht sehr anfreunden konnte, ging er nach Heidelberg um Soziologie zu studieren. 1922 promovierte er mit einer Dissertation über „Das jüdische Gesetz“. 1926 heiratet er die Psychiaterin Frieda Reichmann und absolvierte eine psychoanalytische Ausbildung. 1929 wurde Erich Fromm zum Mitbegründer des Süddeutschen Instituts für Psychoanalyse in Frankfurt.

Im Jahr 1933 hielt Erich Fromm Gastvorlesungen an der Universität von Chicago und ließ sich ein Jahr später in New York nieder. 1941 erschien sein Buch „Die Furcht vor der Freiheit“, durch das er berühmt wurde. 1947 publizierte er sein bedeutendes Werk „Psychoanalyse und Ethik“. 1951 wurde Erich Fromm Professor für Psychoanalyse an der Autonomen Universität von Mexiko. 1955 erschien sein drittes Hauptwerk „Der moderne Mensch und seine Zukunft“. Seinen größten publizistischen Erfolg erzielt Fromm allerdings mit seinem Buch „Die Kunst des Liebens“ (1956). Sehr bekannt geworden ist auch sein Spätwerk „Haben oder sein“ von 1976. Erich Fromm der seit 1974 in Locarno, in der Schweiz, lebte, starb am 18. März 1980.

Von Hans Klumbies