Die empirische Psychologie entwickelt sich

Der Begriff der „Erfahrung“ ist systematisch mehrdeutig. Er wird beispielsweise gebraucht, um eine Quelle von Vorstellungen und Ideen sprachlich auszudrücken oder das zugehörige rezeptive Vermögen einen besonderen geistigen Akt beziehungsweise ein besonderes geistiges Widerfahrnis darzustellen. Schließlich bezeichnet er das Erfahrene, das im Geiste gefällte Erfahrungsurteil und schließlich Sätze, die dieses Erfahrungsurteil sprachlich ausdrücken und so die Erfahrung protokollieren. Die Erfahrung gliedert sich auch nach dem Grad ihrer Intentionalität. Neben der gemeinen Erfahrung, die sich bleiläufig, ohne weiteres Zutun einstellt, gibt es die mit Vorsatz, Überlegung und erhöhter Aufmerksamkeit durchgeführte Beobachtung, die in einer ausführlichen Beschreibung protokolliert werden sollte, und das planmäßig vorbereitete und instrumentell-apparativ gestützte Experiment. Sofern die Erfahrung von gewissen Kunstmitteln und Instrumenten Gebrauch macht, kann man auch von künstlicher Erfahrung sprechen.

Jede Bestimmung des menschlichen Geistes kann Sinn genannt werden

In Analogie zu den äußeren Sinnen, denen Menschen die äußere Erfahrung verdanken, nahmen John Locke, Gottfried Wilhelm Leibniz, Immanuel Kant und andere ein reflexives Vermögen an, das eine innere Erfahrung des Menschen ermöglicht. Im System der Wissenschaften begann sich damals die introspektiv verfahrene Psychologie allmählich von der in der Metaphysik thematisierten Geisterlehre abzulösen und zu einer eigenen empirischen Psychologie oder, wie es seit den 1780er Jahren auch heißt, zu einer „Erfahrungsseelenkunde“ zu entwickeln.

David Hume sprach von einer neuen Wissenschaft vom Menschen, die, wenn sie auf vorsichtiger Beobachtung des menschlichen Lebens beruhe und sich hüte die Grenzen der Erfahrung zu überschreiten, zu einer Wissenschaft reifen könne, die den anderen Wissenschaften im Gewissheitsgrad nicht nachstehe, sie in ihrem Nutzen aber weit übertreffen könne. Francis Hutcheson zufolge kann jede Bestimmung des menschlichen Geistes, unabhängig vom Willen Ideen zum empfangen sowie Lust und Schmerz zu empfinden, ein Sinn genannt werden.

Menschen können einfache moralische Ideen wahrnehmen

Neben den äußeren Sinnen und dem inneren Sinn gehören dazu: ein Gemeinsinn, ein moralischer Sinn und ein Sinn für Ehre. Besondere Bedeutung erlange der moralische Sinn, da er eine Alternative zu den traditionellen Systemen des moralischen Rationalismus und des moralischen Egoismus eröffnete. Nach Francis Hutcheson gibt es eine unmittelbare, nicht durch Vernunftschlüsse oder Berechnungen vermittelte, sittliche Erfahrung, das heißt: Menschen können einfache moralische Ideen wahrnehmen.

Zur Erklärung dieser Fähigkeit muss in Analogie zu den äußeren Sinnen eine eigene geistige Disposition, willensunabhängig Ideen zu empfangen, kurz: ein eigener Sinn, angenommen werden. Dieser moralische Sinn wurde bei Francis Hutcheson und seinen Nachfolgern zur Grundlage einer empiristischen Gefühlsethik, in der die wohlwollenden Neigungen und sozialen Gefühle eine bedeutende Rolle spielen. Die Aufklärer betonen, dass Menschen nicht alles selbst erfahren können und aus diesem Grunde die eigenen Erfahrungen durch die Erfahrung anderer ergänzen müssen. Quelle: „Handbuch Europäischer Aufklärung“ von Heinz Thoma (Hrsg.)

Von Hans Klumbies