Eine Demokratie braucht Widerspruch und Kritik

Wer hinter jeder politischen Dummheit mysteriöse Machenschaften vermutet oder dem System an sich die Schuld gibt, hat von der Politik nichts verstanden. Aber ohne Widerspruch und Kritik, da ist sich Tony Judt ganz sicher, auch wenn dies im Extremfall sehr anstrengend sein kann, kann eine offene Gesellschaft nicht existieren. Er schreibt: „Wir brauchen Menschen, für die es eine Selbstverständlichkeit ist, dass man seine Meinung sagt. Eine Demokratie, in der alle immerzu einverstanden sind, wird auf Dauer keinen Bestand haben.“ Anpassung ist verführerisch, weil das Leben in einer Gesellschaft viel einfacher ist, wenn alle sich grundsätzlich einig sind und Widersprüche durch Kompromisse bereinigt werden. Doch die Anpassung hat einen hohen Preis. Tony Judt erklärt: „Ein geschlossener Kreis, in den nie eine Stimme von außen eindringt und nur in genau festgelegten Grenzen zugelassen ist, verliert die Fähigkeit, auf neue Herausforderungen energisch und phantasievoll zu reagieren.“

Die Intellektuellen haben sich aus der Politik verabschiedet

Laut Tony Judt können zum Beispiel in Amerika Einzelne zwar ihre Meinung sagen, aber wenn ihre Standpunkte von denen der Mehrheit abweichen, werden sie als Außenseiter abgestempelt. Ihre Aussagen werden einfach nicht zur Kenntnis genommen. Für England gilt dasselbe. Tony Judt schreibt: „Lebendige politische Meinungen, die vom Mainstream abweichen, sind im heutigen England fast ebenso selten wie in Amerika.“

In neuer Zeit wurde Widerspruch gemäß Tony Judt besonders mit Intellektuellen in Verbindung gebracht, einem Typus, der im ausgehenden 19. Jahrhundert seine Stimme gegen staatlichen Machtmissbrauch erhob. Die Intellektuellen der Gegenwart haben dagegen das Interesse an dem politischen Alltagsgeschäft fast völlig verloren. Sie diskutieren lieber über ethische Fragen, weil dort die Alternativen klarer erscheinen. Deshalb bleiben politische Auseinandersetzungen meistens den Publizisten und Think Tanks überlassen.

Die Bürger müssen sich aus den Fängen des Konformismus befreien

Für Tony Judt besteht das Problem nicht darin, ob die Bürger dieses oder jenes Gesetz ablehnen, sondern es geht darum, wie die Menschen über das Gemeinwesen diskutieren. Seiner Meinung nach ist der moralische Mut, eine andere Meinung zu haben und die Mitbürger damit zu konfrontieren, auf der ganzen Welt zu einer Rarität geworden. Er schreibt: „Zumindest das Thema Krieg oder Rassismus bietet jedoch klare moralische Entscheidungen. Die meisten Leute wissen heute, wie sie zu diesen Dingen stehen. Doch bei wirtschaftspolitischen Themen befleißigen sie sich einer allzu großen Bescheidenheit.“

Tony Judt fordert alle Bürger auf, wieder zu lernen, ihre Regierung auch einmal zu kritisieren. Und dafür müssen sie sich aus den Fängen des Konformismus befreien, in denen sie gefangen sind. Er schreibt: „Befreiung ist ein Willensakt. Unsere armseligen öffentlichen Debatten können wir nur wiederbeleben, wenn wir uns über die Verhältnisse empören.“ Es wäre ein Leichtes, sich angesichts inkompetenter Regierungen frustriert zurückzuziehen, doch wenn die Menschen die radikale politische Erneuerung den Politikern selbst überlassen, werden sie nur weitere Enttäuschungen erleben.

 Tony Judt, der von 1948 bis 2010 lebte, studierte in Cambridge und Paris und lehrte nach Stationen in Cambridge, Oxford und Berkeley seit 1995 als Erich-Maria-Remarque-Professor für Europäische Studien in New York. Im vergangen Jahr erschien im Hanser Verlag sein Buch „Das vergessene 20. Jahrhundert. Die Rückkehr des politischen Intellektuellen“.

Von Hans Klumbies