Ein Staat muss seine Grenzen schützen

In verstärktem Maße geht es im Reich des Homo faber um die Behauptung des Echten. Christian Schüle nennt Beispiele: „Um die echten Deutschen. Die echten Franzosen. Die echten Dänen. Die echten Polen. Die echten, ethnisch klar und vor allem berechtigterweise auf den Heimatboden Verorteten.“ Um die im Revier Geborenen, die auf der Scholle Lebenden. Der Nationalismus, der an das Gewissen der Echtheit appelliert, hat das Problem, nachvollziehbare Kriterien für seine Voraussetzungen zu liefern. Das Echte kann nur echt durch seine Negation sein: das Unechte, vulgo Fremde. Wenn das Eigene das Echte ist, muss das Fremde das Falsche sein. Solcherart Dialektik rechtfertigt sogar Gewalt, weil das staatliche Monopol aufgegeben ist, wenn der Staat seiner genuinen Aufgabe nicht nachkommt: dem Schutz der Grenzen seines Raumes. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

Die Menschheit hat es mit lauter narzisstisch gekränkten Herrschern zu tun

Mit den Grenzen definiert er freilich jenen Raum, den er durch seine Gewalt schützt. Dass sich Intoleranz des Vorwands ethnischer Unterschiede bedient, hielt Claude Lévi-Strauss für das größte Verhängnis des 20. Jahrhunderts. Die Lehre aus der Geschichte, proklamierte einst der Anthropologe René Girard, bestehe darin, dass der Kreislauf aus Gewalt, Rache und Gegengewalt infolge des „mimetischen Begehrens“ geschehe. Heutzutage hat es die Menschheit im Zuge eines reaktivierten Nationalismus mit lauter narzisstisch gekränkten Herrschern zu tun.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan lässt allerorten in Europa nach antitürkischen Äußerungen fahnden, Russland sieht in jeder Kritik sofort antirussische Motive. Die Herrscher fühlen sich verfolgt und inszenieren ihre Beleidigtheit, als wären sie Bengel im Kindergartensandkasten. Donald Trump tönte in seinem Präsidentschaftswahlkampf wahlweise „America first!“ oder „Make America great again!“ In England war „Take back control!“ die große Idee der EU-Gegner, deren größtes unter lauten kleinen Argumenten die Ablehnung von Migranten als Sozialhilfeempfänger war.

Stärke inszeniert man am besten durch die Anrufung alter Mythen

Christian Schüle erläutert: „Brexit heißt ja vor allem: Man verbietet sich jede Einmischung von außen, um das Eigene vor dem Verschwinden zu retten.“ Man will „wieder stark sein“. Stärke verfängt. Stärke ist toll. Stärke setzt einen auf die Siegerstraße. Stärke ist einfach und versteht sich von selbst. Schwäche hingegen schmerzt, lähmt, ist mühsam und kraftraubend. Schwäche macht angreifbar, verletzlich, erpressbar. Die fast neurotische Überhöhung von Sieg und Stärke kennen die Deutschen so gut wie manch ein anderes europäisches Land mit faschistischer Geschichte.

Stärke inszeniert man am besten durch die Anrufung alter Mythen und eine Hegemonie des Nationalkonservatismus mit all seinen historischen Heldenfiguren gegen eine alles aufweichende, konturlose, für jeden Herrschaftsanspruch eminent gefährliche „unsichtbare Hand“ der globalisierten Ökonomie. Die Virtualität des Konsumgüterverkehrs, der weltwirtschaftlichen Verflechtung ist die wahre Bedrohung jener Kleingeister in ihren pompösen Palästen, die im Namen des „wahren Volkes“ Sultan oder Zar sein wollen. Quelle: „Heimat“ von Christian Schüle

Von Hans Klumbies