In der Europäischen Union fehlt es an Entwicklungsperspektiven

Die europäische Einigung nach 1945 ist laut Dominik Geppert von einem eigenartigen Spannungsverhältnis geprägt. Einerseits boten die Europäische Gemeinschaft und später die Europäische Union (EU) ihren Mitgliedern praktische Vorteile. Sie erleichterten das Handeln über Grenzen hinweg und ermöglichten die Koordination politischer Pläne. Dominik Geppert erläutert: „Auf diese Weise halfen sie den Nationalstaaten, die ihnen angehörten, sich gegenüber den ökonomischen und politischen Herausforderungen des zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts besser zu behaupten.“ Andererseits beinhaltete die europäische Einigung für Dominik Geppert von Beginn an auch die Perspektive einer Überwindung der Nationalstaaten durch die Integration. Im Vertrag von Maastricht war ausdrücklich vom Ziel einer immer engeren Einheit die Rede. Dominik Geppert ist seit 2010 ordentlicher Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

Es gibt in der EU ein Spannungsverhältnis zwischen Stärkung und Überwindung der Nationen

Lange Zeit wirkte sich dieses Spannungsverhältnis nicht weiter störend aus. Die Mitgliedsstaaten nutzen die praktischen Vorteile in der Gegenwart und verzichteten darauf, künftige Entwicklungsperspektiven zu entwerfen. Die Frage der Finalität der europäischen Integration wurde laut Dominik Geppert immer wieder in eine ferne Zukunft hinausgeschoben. Die Vertagung schien schon deshalb angeraten, weil es zwischen den Mitgliedsstaaten erhebliche Differenzen über den Endpunkt des gemeinsamen Weges gab.

Dominik Geppert weist darauf hin, dass die meisten Länder den Akzent auf die europäische Rettung des Nationalstaats legten, während in Deutschland eine besondere Vorliebe für die idealistische Idee vorherrschte, die Nationalstaaten in einem vereinten Europa aufzuheben. Dominik Geppert fügt hinzu: „Auch die Europäische Währungsunion entstand in dem Spannungsverhältnis zwischen Stärkung und Überwindung der Nationalstaaten. Für viele Mitgliedsstaaten bedeutete sie lediglich einen weiteren Schritt auf dem Weg, den eigenen Nationalstaat durch die europäische Integration abzustützen.“

Helmut Kohl wollte einen europäischen Bundesstaat gründen

Der ehemalige deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl dagegen wollte mit dem Euro den entscheidenden Durchbruch zu einem europäischen Bundesstaat schaffen. Der britische Historiker John Gillingham formulierte dies wie folgt: „Mit der Einführung der Gemeinschaftswährung sollte den Europäern die Liebe zur vorgestellten Gemeinschaft eines europäischen Vaterlandes eingeimpft werden, denn an einer gemeinsamen europäischen Identität und integrierender Symbolik mangelte es weiterhin.“

Dominik Geppert vertritt die These, dass die Voraussetzungen für ein solch ehrgeiziges Unterfangen zu keinem Zeitpunkt besonders günstig gewesen sind. Denn seiner Meinung nach waren die verschiedenen Volkswirtschaften allzu unterschiedlich leistungsstark, zu verschiedenartig die Systeme der sozialen Sicherung, zu mannigfaltig die politischen Kulturen und die mentalen Prägungen in den einzelnen Ländern. Besonders schlecht erwiesen sich die wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen in den späten 1980er und 1990er Jahren. Denn anders als in den 1950er Jahren wurde der Integrationsschub nicht von hohen Wachstumsraten und annähernder Vollbeschäftigung getragen.

Von Hans Klumbies