Die europäische Integration vollzog sich in Schüben und Sprüngen

Für die Bundesrepublik brachte das Projekt Europa nicht nur die schrittweise Rückgewinnung der staatlichen Souveränität und den Schutz vor der Sowjetunion im Kalten Krieg, sondern auch die Versöhnung mit Frankreich. Die Deutschen konnten sich endlich aus jener halbhegemonialen Position und einer gefährlichen außenpolitischen Isolierung befreien. Die europäische Einigung erscheint vielen Historikern als logische Fortsetzung der deutschen Nationalgeschichte. Doch Dominik Geppert hat ein Problem mit dieser gängigen Interpretation, da sie mit den Entwicklungen der vergangenen Jahre immer weniger in Einklang zu bringen ist. Er vertritt die These, dass sich die gängigen historischen Begründungen der europäischen Einigung gerade in ihr Gegenteil verkehren. Dominik Geppert erklärt: „Das gilt für den Abbau zwischenstaatlicher Konflikte ebenso wie für die Bewahrung von Recht und Demokratie und die Mehrung von Sicherheit und Wohlstand.“ Dominik Geppert ist seit 2010 ordentlicher Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

Die Realität der Europäischen Union ist nicht identisch mit dem Mythos Europa

Ulrich Geppert weist darauf hin, dass der Euroraum eben nicht mit der Europäischen Union (EU) insgesamt gleichzusetzen ist. Außerdem sollte man die EU nicht mit Europa und Europa nicht mit der westlichen Wertegemeinschaft verwechseln. Ulrich Geppert fügt hinzu: „Die Realität der EU ist auch nicht identisch mit dem Mythos Europa, den mehrere Generationen europäischer Idealisten gepflegt haben. Der Prozess der europäischen Einigung verlief weniger geradlinig und kontinuierlich, als uns der Mythos glauben machen will.“

Laut Dominik Geppert haben den Vereinigungsprozess nicht nur hochherzige Ideale, sondern mindestens ebenso sehr ein realistisches Kalkül geprägt. Mitunter brachten zwar idealistische Vorstellungen den Prozess der Integration voran, doch verhakte sich die ursprüngliche Vision später oft in den Realitäten und im Alltagsgeschäft der europäischen Politik. So ließ sich zum Beispiel die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) nicht zur Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) ausbauen.

Es gibt keine Alternativlosigkeit bei der Entwicklung der Europäischen Union

Ähnlich verhielt es sich drei Jahrzehnte später bei der Währungsunion, aus der eben keine Politische Union erwuchs, oder beim europäischen Konvent, der keine europäische Verfassung zustande brachte. Dominik Geppert erläutert: „Die europäische Integration war keine lineare Fortschrittsgeschichte, sondern vollzog sich in Schüben und Sprüngen, nicht teleologisch auf das ein für alle Mal vorgegebene Ziel eines supranationalen Bundesstaates hin, sondern zukunftsoffen: in Reaktion auf unvorhersehbare äußere Ereignisse, in Anpassung an veränderte politische, ökonomische, soziale, auch weltanschauliche Rahmenbedingungen.“

 Laut Dominik Geppert wäre es falsch, blind für die Realität an überkommenen Geschichtsbildern festzuhalten, die eine Alternativlosigkeit der Entwicklung vorgaukeln. Vielmehr gilt es seiner Meinung nach, genau zu analysieren, unter welchen konkreten Umständen sich der Integrationsprozess historisch beschleunigte, wann und aus welchen Gründen er stockte, wann er eine andere Richtung einschlug und seinen Charakter veränderte. Ulrich Geppert weist noch darauf hin, dass die entscheidenden Phasen der Transformation in Deutschland in die Amtszeiten der drei wichtigsten christdemokratischen Regierungschefs fielen: Konrad Adenauer, Helmut Kohl und Angela Merkel.

Von Hans Klumbies