Es gibt Parallelen zwischen der Juli-Krise 1914 und der Gegenwart

Die Juli-Krise des Jahres 1914 jährt sich bald zum hundertsten Male. Es lohnt sich laut Dominik Geppert sie näher zu betrachten, auch wenn die Staaten der Gegenwart kaum noch etwas mit jener Welt der halbautokratischen Monarchien und Großmachtrivalitäten verbindet, die damals gleichsam unaufhaltsam dem Ersten Weltkrieg entgegentaumelten. Die Staaten Europas haben inzwischen dem Wettlauf der Aufrüstung ihrer Flotten und Heere abgeschworen. Der Glaube an den Krieg als ultimativer Test für die Standortbestimmung von Nationen in der internationalen Politik ist den europäischen Gesellschaften fremd geworden. Dominik Geppert fügt hinzu: „In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, so könnte man sagen, existierten die europäischen Staaten durch den Krieg und für den Krieg. In der zweiten Jahrhunderthälfte wurden sie durch und durch für den Frieden umgebildet.“ Dominik Geppert ist seit 2010 ordentlicher Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn.  

Heute konkurrieren Nationen auf den Kampfplätzen des Handels und der Ideen

Auf absehbare Zeit droht laut Dominik Geppert in Europa kein weiterer großer Krieg. Die Erinnerung an die beiden großen Weltkriege des 20. Jahrhunderts verblasst. Der Frieden ist für fast alle Europäer zu einem glücklichen Normalzustand geworden. Die Auseinandersetzungen, mit denen die heutigen Nationen zu tun haben, finden nicht mehr auf dem Schlachtfeld statt, sondern auf den Kampfplätzen des Handels und der Ideen statt. Dominik Geppert erklärt: „Heute ist die Wirtschaft in mancher Hinsicht an die Stelle des Militärischen getreten.“

Heute liefern laut Dominik Geppert ökonomische Parameter von Produktivität und Bruttosozialprodukt Hinweise auf die Machtposition einzelner Nationen im globalen Konkurrenzkampf. Bei genauerem Hinsehen erkennt Dominik Geppert doch Parallelen zu jener großen europäischen Krise, die am Vorabend des Ersten Weltkriegs, Europa erschütterte. Dominik Geppert erläutert: „Damals wie heute laden sich Nationalismen, medial verstärkt, dramatisch auf.“

Heute wie vor 1914 spielen die Entscheidungsträger mit hohem Risiko

Außerdem wächst das Misstrauen zwischen den europäischen Völkern, in einer Epoche der intensiven globalen Verflechtungen. Vor allem Deutschland, als größtes Land in der Mitte Europas, wird von einigen europäischen Nachbarn immer stärker als Bedrohung empfunden, ehemals wegen seiner militärischen, heute wegen seiner ökonomischen Macht. Umgekehrt sieht sich Deutschland laut Dominik Geppert durch Koalitionen anderer Länder ausgegrenzt und eingekreist. Es verstärkt sich der Eindruck bei den Deutschen, übervorteilt zu werden.

Dominik Geppert stellt fest: „Wie damals ist auch die aktuelle Krise an der südöstlichen Peripherie Europas ausgebrochen und droht von dorther den gesamten Kontinent zu erfassen. Heute wie vor 1914 spielen die Entscheidungsträger mit hohem Risiko.“ Sie befinden sich alle in der Defensive und haben ein gemeinsames Interesse daran, das Schlimmste zu verhindern. Gleichzeitig verfolgen sie aber auch Eigeninteressen, die einander ausschließen, und nutzen die verbreitete Angst vor einer großen Katastrophe, um ihre Vorstellungen gegen die Widerstände anderer Länder durchzusetzen.

Von Hans Klumbies