Diogenes war der erste Performance-Künstler der Menschheit

Wir schreiben das Jahr 360 vor Christus. Damals wird ein Mann in Athen, der keinen Wohnsitz hat, dafür aber einen ausgeprägten Sinn für die Provokation besitzt, zur Legende. Wie hat er das geschafft? Eigentlich nur mit so guten Geschichten, die jeder gleich weitererzählen wollte. Die Rede ist von Diogenes von Sinope, dem Philosophen, der in einer Tonne aus Keramik gelebt haben soll. Bis heute gilt er als Urahn der Hippies, als der erste Aussteiger, als Prototyp eines Menschen, der die Normen der Gesellschaft ablehnt und sich über sie lustig macht. Man kann Diogenes auch als ersten Performance-Künstler betrachten, der den öffentlichen Raum für seine gesellschaftskritischen Aufführungen nutzte. Wie sehr Diogenes die Zivilisation auch kritisierte, so war er doch auf sie angewiesen.

Schamgefühl und Diskretion hatten für Diogenes keinerlei Wert

Die Aktionen des Diogenes sorgten damals in Athen für eine gewaltige Resonanz. Diogenes brauchte Menschen, die verwundert, zornig oder beleidigt auf seine Auftritte reagierten. Er provozierte und wartete anschließen mit großem Interesse darauf, was passieren würde. Auch seine Wohntonne hatte er an einem prominenten Platz in Athen aufgestellt. Die Athener und die Bürger von Korinth, wo er sich immer wieder einmal aufhielt, konnten am Alltag des berühmten, mittelosen Philosophen teilnehmen. Und da gab es einiges zu bestaunen.

Schamgefühl, Privatheit und Diskretion betrachtete Diogenes als ähnlich sinnlose Projekte der Zivilisation, wie die Order, in geschlossen Räumen nicht auf den Boden zu spucken. Besonders gern nahm sich Diogenes Regeln vor, die das Zusammenleben regeln sollten, aber im Grunde genommen keine richtigen Zweck hatten. Zum Beispiel war es damals in Athen gerade Mode, nicht in der Öffentlichkeit zu essen. Diogenes dagegen verspeiste Linsen, am besten so, dass keiner wegschauen konnte, der an ihm vorüberging.

Kyniker suchen nach Unabhängigkeit und innerer Freiheit

Diogenes vertrat die Ansicht, dass man desto näher bei Gott sei, desto weniger Dinge man nötig habe. Selbst seinen Trinkbecher und sein Essgeschirr soll er weggeworfen haben, um fortan mit den Fingern zu essen und aus der hohlen Hand zu trinken. Es gab viele Zeitgenossen, die ihn dafür bewunderten, aber ebenso viele, für die er ein öffentliches Ärgernis und der Vorbote des Untergangs der Zivilisation und Moral war. Die philosophische Grundlage, an der sich Diogenes für seinen Lebensentwurf orientierte, wir Kynismus genannt.

Der Kynismus ist geprägt durch Bedürfnislosigkeit und Skepsis gegenüber den Normen und Werten der Gesellschaft. Letztlich ging es dabei auch immer um die innere Freiheit und Unabhängigkeit und die Befreiung von sozialen Zwängen und Bedürfnissen nach Komfort. Um diesen Idealzustand zu erreichen, soll sich Diogenes im Sommer im heißen Sand und im Winter im kalten Schnee gewälzt haben. Er begründete dies wie folgt: „Dass die Menschen ein unglücklicheres Leben führen als die Tiere, liegt nur an ihrer Weichlichkeit.“ Quelle: Süddeutsche Zeitung

Von Hans Klumbies