Die Nation funktioniert nur als Imagination

Seit Benedict Anderson weiß man: Die Nation ist eine „imaginated community“ eine vorgestellte Gemeinschaft. Dieser Titel des wohl bekanntesten Buches (1983) des amerikanischen Politikwissenschaftlers ist zu einem geflügelten Wort geworden. „Imaginated community“ bedeutet, dass die Nation als Vorstellung, als Imagination funktioniert. Isolde Charim fügt hinzu: „Man könnte auch sagen: Die Grundlage der homogenen Gesellschaft war die politische Vorstellungskraft. Die Leute haben an die Nation geglaubt. Sie haben an die Nation als eine Realität geglaubt.“ Und deshalb hat die Nation, so fiktiv sie auch immer gewesen sein mag, funktioniert. Deshalb hat diese Vorstellung, die Vorstellung „wir sind eine Nation“, tatsächlich eine nationale Gesellschaft hervorgebracht. Die Philosophin Isolde Charim arbeitet als freie Publizistin und ständige Kolumnistin der „taz“ und der „Wiener Zeitung“.

Eine Nation braucht eine kulturelle Vereinheitlichung

Das heißt nicht, dass die Homogenität jemals wirklich vollständig erreicht wurde. Es gab immer Abweichungen von der Homogenität. Aber die Nation war die politische Form, um eine vielfältige, eine heterogene Masse zu verbinden, zu integrieren. Sie war die politische Erzählung, um die Massen zu einer Gesellschaft zu vereinigen. In der Literatur wird diese Form der nationalen Imagination immer an Benedict Andersons Behauptung festgemacht, die imaginierte Gesellschaft funktioniere, weil die Mitglieder einer Nation in der Illusion leben würden, alle anderen Mitglieder zu kennen.

Isolde Charim erläutert: „Die Illusion, dass man alle Mitglieder seiner eigenen Nation kennt, konnte funktionieren, weil die Nation eben nicht nur eine materielle Vereinheitlichung ist – also die Vereinheitlichung von Sprache, Zeit und Raum.“ Sie konnte funktionieren, weil die Nation nicht nur eine emotionale Vereinheitlichung ist, die ihren Raum und ihre Symbole emotional besetzt. Die Nation brauchte vielmehr noch eine weitere, eine dritte Vereinheitlichung, und das ist eine kulturelle.

Die Demokratie macht die Menschen zu abstrakt Gleichen

Diese ist nicht in erster Linie im Sinne einer üppigen, traditionsreichen Hochkultur zu verstehen. Die kulturelle Vereinheitlichung hat sich massenwirksam ganz anders durchgesetzt denn als Hochkultur. Sie hat vielmehr einen Typus entwickelt, den nationalen Typus. Dieser ist ein Typus mit eindeutigen Merkmalen der Identität. Ein Typus mit ganz klar definierten Eigenheiten. Zum Beispiel der Typus des Österreichers. Oder der Typus des Deutschen. Alle Menschen, die in westlichen, also in demokratischen Nationen leben, sind bekanntlich alle verdoppelt: Sie sind zugleich Bourgeois und Citoyen, als Bürger und Staatsbürger zugleich.

Als Bürger sind die Menschen Privatpersonen. Einzelne mit ganz bestimmten Merkmalen, die sie unterscheiden: Sie sind Mann oder Frau, arm oder reich, Beamter, Bauer, Lehrer. Als Citoyen jedoch, also als Staatsbürger, als öffentliche Personen, sind sie alle gleich. Und genau darin besteht ja das demokratische Moment: Es macht die Menschen zu abstrakt Gleichen. Isolde Charim schreibt: „Demokratie, wie wir sie bisher kannten, ist die Herstellung eines „Individuums des Universellen“ wie der französische Historiker Pierre Rosanvallon das genannt hat.“ Quelle: „Ich und die Anderen“ von Isolde Charim

Von Hans Klumbies