Die moderne Zivilisation wäre ohne Religion nicht entstanden

Die Anfälligkeit des Menschen für Übernatürliches steckt in seinem Erbgut. Einige Psychologen vertreten die Ansicht, dass jeder eine Art versteckter Kamera in sich trägt, die ihn von selbstsüchtigen Verhalten abhält. Gläubige sind friedfertig, lenkbar, helfen Fremden und sind sehr gut geeignet für Arbeiten in großen Gruppen. Lauter Eigenschaften, die eine zivilisierte Gesellschaft benötigt. Die Anthropologin Katrin Schäfer erklärt: „Sobald der Mensch fähig war nachzudenken, hat er sich mit dem Rätsel, wo komm ich her, wo gehe ich hin, beschäftigt.“ Als sich die Wissenschaft um Religionsfragen zu kümmern begann, wurde es kompliziert. Je nach Fachgebiet gibt es unterschiedliche Erkenntnisse über den Glauben. Katrin Schäfer fügt hinzu: „Soziologen und Psychologen meinen, dass, wer glaubt, einen persönlichen Vorteil hat, zum Beispiel bessere Gesundheit. Evolutionsbiologen gehen von einem Vorteil auf Gruppen-Niveau aus. Man hält zusammen, unterstützt einander und stärkt so die Gemeinschaft.“

Die Religion hält die Gesellschaft zusammen

Folgende Frage beschäftigt die Forschung heutzutage ganz besonders. Hätte der Mensch ohne wachsame Götter überhaupt aus der Steinzeit herausgefunden? In der Türkei, in Göbekli Tepe, glauben sie die Antwort gefunden zu haben. Denn vor 11.000 Jahren bauten dort die Menschen die ersten Tempel. Die Religionsforscher glauben, dass sich die Menschen damit praktisch unter die Aufsicht gemeinsamer Götter gestellt haben. Der Glaube machte damit auch den Weg frei für das Wachstum des Gemeinwesens.

Psychologische Experimente ergaben, dass Menschen unter göttlicher Aufsicht kooperativ werden. Die Kulturanthropologin Evelyne Puchegger-Ebner erläutert: „Gesellschaftliche Normen sind ganz eng mit dem Weltbild und Seelenkonzept verbunden. Denn wie sonst soll eine Norm exekutiert werden? Wenn ich will, dass Leute gewisse Dinge tun, brauche in Mechanismen – Respekt, Strafe. Mit Religion wird die Gesellschaft zusammengehalten.“ Eine Studie ergab: Je komplexer eine Gesellschaft, desto eher verehrt sie allzuständige Instanzen.

Die zentrale Aufgabe von Ritualen ist die Gemeinschaftsbildung

Heute dominiert der Gott der drei Weltreligionen, der soziales Wohlverhalten mit Erlösung belohnt. Die Religionsforscher beobachten allerdings auch, dass strenge Regeln nicht schaden. Ganz im Gegenteil. So hat sich beispielsweise die Zahl der Mormonen seit den 1970er-Jahren verdreifacht. Religionen, die ihre Anhänger nicht fordern, leiden dagegen unter einer Abnahme ihrer Anhänger und Gläubigen. Auch dort, wo sich Menschen gut versorgt fühlen, wie zum Beispiel in Skandinavien oder Deutschland, nimmt die Religiosität rasch ab.

Evelyn Puchegger-Ebner, die in Mexiko die Glaubensvorstellungen der Tarahumara-Indianer erforscht hat, erklärt deren Gottesfurcht wie folgt: „Dort gibt es keine Sozialversicherung. Der einzige Rückhalt, den diese Menschen haben, ist die Gemeinschaft. Im Rahmen von Ritualen versichert man sich der gemeinsamen Werte. Die Gemeinschaft ist das Wichtigste, und sie sieht sich als wir. Der Rest sind die anderen.“ Auch Harvey Whitehouse von der University of Oxford glaubt, dass die zentrale Aufgabe von Ritualen immer die Gemeinschaftsbildung ist. Quelle: Kurier

Von Hans Klumbies