Die Machtzentren der Welt haben sich nicht verlagert

Die politische Ökonomie ist laut Emmanuel Todd nicht in der Lage, die gewaltigen Umwälzungen in der Welt zu erfassen. Um dies zu erkennen hält sich der französische Soziologe an die am weitesten entwickelten Länder. Die gegenwärtigen Schwierigkeiten Brasiliens und Chinas räumen mit der Illusion auf, die Geschichte werde fortan maßgeblich durch die Schwellenländer geprägt. Emmanuel Todd schreibt: „Die Spielregeln der wirtschaftlichen Globalisierung wurden in den Vereinigten Staaten, Europa und Japan festgelegt. Diese „Triade“ hat seit 1980 die jüngst alphabetisierten Erwerbsbevölkerungen der Dritten Welt in Arbeit gebracht, dadurch die inländischen Arbeitseinkommen gewaltig unter Druck gesetzt und – wie man sagen muss – auf diese Art weltweit die Profitraten erhöht.“ Wohl noch besser drückt sich die Vorherrschaft der alternden entwickelten Welt in einer anderen Fähigkeit aus. Emmanuel Todd ist einer der prominentesten Soziologen Frankreichs.

Nur Russland ist vom globalisierten System unabhängig geblieben

Sie locken anderswo ausgebildete Erwerbsfähige an, je nach Bedarf von der Peripherie Arbeiter, Techniker, Informatiker, Pflegpersonal, Künstler und Ärzte. Sie saugen diese Menschen aus ihren Heimatländern ab, um sich durch ein regelrechtes demografisches Raubrittertum das eigene Überleben zu sichern. Diese Ausplünderung von Humanressourcen ist deutlich gravierender als die von natürlichen Ressourcen, weil sie ab einer gewissen Größenordnung die Entwicklung der aufstrebenden Länder gefährdet, indem sie sie ihrer Führungs- und Fachkräfte un damit auch ihrer Mittelschicht beraubt.

Die Machtzentren der Welt haben sich folglich keineswegs verlagert. Im Übrigen hat sich mit Russland, einer alten europäischen Macht, die einzige Kraft behaupten können, die vom globalisierten System unabhängig geblieben ist. Die alten Akteure des Zweiten Weltkriegs sitzen immer noch an den Schalthebeln der Macht in der Weltgeschichte. Aber sie erleben ihrerseits eine Umwälzung, die angesichts ihres Ausmaßes als ein anthropologischer Umbruch gelten muss, der eher mit der Neolithischen als der Industriellen Revolution vergleichbar ist.

Die Religiosität erlischt endgültig

Wie einst Sesshaftwerdung und Landwirtschaft wälzt der derzeitige Wandel die Lebensweise der Spezies Mensch in all ihren Dimensionen um. Unter anderem stieg der Wohlstand aller in den USA zwischen 1920 und 1960 massiv an. Zwischen 1960 und 1980 gingen die Geburtenraten drastisch zurück. Die Langlebigkeit stieg, einhergehend mit einer Alterung der Bevölkerung. Auch der Bildungsstand erhöhte sich auf spektakuläre Weise. Dabei bestehen allerdings zwischen den Nationen bedeutende Unterschiede.

Bei der Bildung überholen die Frauen die Männer, auch hier mit wichtigen Unterschieden im Kreis der entwickelten Nationen. Die Religiosität erlischt endgültig, wahrscheinlich auch in den USA. Das aus den Zeiten der Religiosität überkommene Heiratsmuster verliert an Gültigkeit. An der Oberfläche der Geschichte entdeckt Emmanuel Todd die Wirtschaft der Ökonomen, die täglich in den Medien präsent ist und deren neoliberale Ideologie in einer merkwürdigen Rückbesinnung auf den Marxismus verkündet, dass sie das Ausschlaggebende sei. Quelle: „Traurige Moderne“ von Emmanuel Todd

Von Hans Klumbies