Die Kunst von Tino Sehgal existiert nur für den Augenblick

Der Berliner Künstler Tino Sehgal schafft keine Werke sonder Kunstsituationen, die von Geheimnissen umwittert sind. Inzwischen ist er so berühmt, dass er im Londoner Museum Tate Modern mit seiner Auffassung von Kunst auftreten darf. Momentan ist seine neueste Arbeit in der Turbinenhalle, einer der größten geschlossenen Kunsträume der Welt zu bestaunen. Vom Eingang führt eine Betonrampe zu den höheren Stockwerken hinauf. Auf dem Weg nach oben werden die Museumsbesucher von Menschen angesprochen, die leise reden, Geschichten erzählen, niemanden berühren und zum nächsten Gesprächspartner davoneilen. Das ist das neueste flüchtige Kunstwerk von Tino Sehgal, es heißt „These Associations“ und ist bis Oktober in der Turbinenhalle zu sehen und zu hören. Der 36-Jährige Künstler und Weltbürger ist inzwischen auf dem besten Weg zum Weltruhm.

Tino Sehgals Kunstsituationen lösen sich in Nichts auf

In der Turbinenhalle der Tate Modern auszustellen, ist eigentlich ein Privileg, das bisher nur sogenannten Großkünstlern eingeräumt wurde. Was hat sich Tino Sehgal überlegt, um diesem Anspruch gerecht zu werden? Er füllt den Raum mit Menschen, er veranstaltet einen gewaltigen Flashmob, den die Museumsbesucher jeden Tag, bei freiem Eintritt, genießen können. Tino Sehgal käme nie auf die Idee, wie zum Beispiel der chinesische Künstler Ai Weiwei die Turbinenhalle mit Objekten wie handbemalten Sonnenblumenkernen aus Porzellan zu füllen.

Zur Kunstphilosophie von Tino Segal gehört, dass er es strikt ablehnt, Überschuss herzustellen. Wenn er seine Kunst herstellt, fügt er der Welt keinen weiteren Gegenstand hinzu. Was er an Kunst produziert, verschwindet wieder, ohne Rückstände zu hinterlassen. Tino Sehgal schafft konstruierte Kunstsituationen, Szenen, in denen auch die Museumsbesucher mitwirken. Bei der Vorbereitung für „These Associations“ hat der Künstler ein Jahr lang in London nach Helfern gesucht. Rund 250 sogenannte Interpretatoren sind nun für ihn in der Turbinenhalle aktiv. Der Stundenlohn beträgt knapp neun Pfund.

Tino Sehgal will der Nachwelt keine Kunst hinterlassen

Eine ähnliche Kunstsituation schuf Tino Sehgal im Jahr 2010 im New Yorker Guggenheim-Museum. Da keines der Kunstwerke von dem Geschehen ablenken sollte, entfernte er alle vor seinem Auftritt. Auch hier mussten die Museumsgespräche beim Hinaufgehen über die Wegspirale des Museums Gespräche mit wechselnden Weggefährten über die Frage was Fortschritt sei, führen. Desto höher die Besucher aufstiegen, desto älter wurden seine Begleiter. In der obersten Etage waren sie plötzlich allein. Es kam vielen von ihnen vor als hätten sie eine kleine Lebensreise im Zeitraffertempo unternommen.

Der Künstler Tino Sehgal will der Nachwelt keine Kunst hinterlassen. Doch er hat nichts dagegen, wenn die Kunstwelt ihn für einen großen Künstler hält. In früheren Arbeiten sagten die Interpretatoren gerne den Satz: „Dies ist ein Werk von Tino Sehgal.“ Doch dies sind nur kleine Gesten. In Wirklichkeit zeichnet sich Tino Sehgals Umgang mit der Kunstwelt durch einen überraschenden Verzicht auf die üblichen Eitelkeiten, die eigenen Werke betreffend, aus. Er sorgt nur dafür, dass der Kommentar zu seiner Kunst in der Schwebe des Gerüchts bleibt. Dazu trägt auch bei, dass er das strikte Verbot erlassen hat, seine Arbeiten zu fotografieren oder zu filmen.

Von Hans Klumbies