Die Hermeneutik ist die philosophische Lehre vom Verstehen

Der Ansatz der Hermeneutik von Wilhelm Dilthey ist von Friedrich Nietzsche und der Lebensphilosophie beeinflusst. Wilhelm Diltheys lebensphilosophische Begründung der Hermeneutik wird von Martin Heidegger und Hans-Georg Gadamer fortgeführt, wobei Hans-Georg Gadamer, der von 1900 bis 2002 lebte, als der bedeutendste Vertreter der Hermeneutik im 20. Jahrhundert angesehen wird. Thomas Rentsch erläutert: „In seinem Hauptwerk „Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik“ verbindet er seine Forschungen zur antiken Philosophie, insbesondere zum sokratischen Dialog, mit Husserls Phänomenologie und Heideggers existentialer Hermeneutik von „Sein und Zeit“. Hermeneutik, die Kunstlehre des Verstehens, hat – wie bei Sokrates und Platon – eine dialogische Struktur: die von Frage und Antwort.“ In diesem Verhältnis stehen die Menschen auch zu ihrer Überlieferung, die fragend immer wieder neu angeeignet werden kann und muss. Thomas Rentsch ist Professor für Philosophie an der TU Dresden.

Verstehen kann nie zu einem endgültigen Ergebnis gelangen

Entscheidend für den Ansatz von Hans-Georg Gadamer sind die Begriffe: Vorverständnis, hermeneutischer Zirkel und Horizontverschmelzung. Die Menschen bringen bei jedem Versuch des Verstehens ein Vorverständnis des Textes, der Sache mit, ob sie dies wollen oder nicht. Daher kommt die Zirkulation des Verstehens, bei dem die Menschen auf diese Vorurteile zurückkommen, die nie ganz überwunden und aufgelöst werden können. Somit kann Verstehen auch nie zu einem endgültigen Ergebnis gelangen.

Hans-Georg Gadamer akzentuiert mit Georg Wilhelm Friedrich Hegel den Anspruch der Erkenntnis des Kunstverstehens und der ästhetischen Erfahrung als einer Dimension der Wahrheit. Wie Martin Heidegger vertritt er die Universalität der hermeneutischen Erfahrung, denn Verstehen ist – mit Sein und Zeit – keine Sonderpraxis, sondern die Seinsweise der menschlichen Existenz selbst. Thomas Rentsch ergänzt: „Verstehen vollzieht sich geschichtlich konkret unter Bedingungen eines „Horizonts“, der die Verstehenden und das Verstandene verbindet; und diese Verbindung wird durch die „Wirkungsgeschichte“ ermöglicht, durch das Weiterwirken der Texte in der Zeit.“

Die Sprache gilt als übergreifende Instanz der Vermittlung

Schließlich verschmelzen die Horizonte der Vergangenheit des zu Verstehenden und der Gegenwart des Verstehenden. Letztlich kann dies geschehen, weil Martin Heidegger und Hans-Georg Gadamer die Sprach als übergreifende Instanz der Vermittlung auszeichnen. Die Hermeneutik lässt Fragen nach kritischer Reflexion auf vergangene Texte nach ihrem Wahrheits- und Geltungsanspruch offen. Hans-Georg Gadamers historisch-kritische Analysen greifen auf die sokratisch-platonischen Dialoge und die für diese zentrale Dialektik von Frage und Antwort zurück.

Ferner bezieht sich Hans-Georg Gadamer auf die Rhetorik des Aristoteles, in der die Pragmatik konkreter Sprachsituationen rekonstruiert wird. Thomas Rentsch fügt hinzu: „Ebenso geht die von Gadamer methodisch explizierte Hermeneutik im Kontext und in der Tradition von Kants Analysen der Urteilskraft und der ästhetischen Erfahrung und in Bezug auf Hegels Dialektik, die von Grund auf die formale Logik überschreitet und überschreiten muss.“ Mit diesen Bezügen bewegt sich die Hermeneutik bewusst in kritischer Absetzung zu einzelnen, fachwissenschaftlichen Methoden.

Von Hans Klumbies