Die Bibel ist auch ein Denkraum für die Philosophie

In der neuen Sonderausgabe des Philosophie Magazins „Die Bibel und die Philosophen“ interpretieren berühmte Denker die zentralen Passagen des Alten Testaments. Dazu zählen unter anderem Immanuel Kant, Hans Blumenberg, Hannah Arendt, Baruch de Spinoza, Umberto Eco, Walter Benjamin und Søren Kierkegaard. Für die Chefredakteurin der Sonderausgabe, Catherine Newmark, steht fest: „Ohne Zweifel, die Bibel ist die einflussreichste Schrift unserer Geschichte; Malerei, Musik, Literatur, Film sind von ihr inspiriert bis zum heutigen Tag.“ Wenn Glauben archetypisch Passivität und Hingabe bedeutet, so steht die Philosophie umgekehrt für die Selbstermächtigung des Menschen durch Vernunft, hin zu Aktivität und Freiheit. Die in der Sonderausgabe versammelten philosophischen Betrachtungen zeigen: Das Alte Testament ist nicht nur eine Heilige Schrift für Gläubige oder eine Schatzkammer schöner Geschichten für Kulturhistoriker, sondern auch ein ungeheuer bezugsreicher Denkraum, ein Raum für Philosophie.

Für Immanuel Kant ist der Sündenfall keine Straftat

Das Alte Testament ist nicht nur für das Verständnis der Kulturgeschichte wichtig, sondern es ist auch ein Text, der fundamentale ethische Fragen aufwirft. Von der Schöpfung zum Sündenfall, vom ersten Mord der Menschheit bis zur maximalen Strafe der Sintflut, von der Hybris des Turmbaus zu Babel bis zur entsetzlichen Forderung nach einem Menschenopfer – das erste Buch Mose erzählt in rascher Abfolge eine Reihe von hochdramatischen Geschichten, die fundamentale Frage der Ethik und der Metaphysik berühren.

Im Paradies, also im Naturzustand, „gleichsam in einem Garten, unter einem jederzeit milden Himmelsstriche“ ist der Mensch ganz Instinktwesen. Bis die Vernunft sich rührt und ihn auf die Bahn einer höheren sittlichen Entwicklung führt. Für Immanuel Kant ist mithin der Sündenfall keine Straftat, sondern ein notwendiger Schritt zur geistigen und moralischen Entfaltung des Menschen. Für Thomas Hobbes lässt sich der Kampf aller gegen alle im Naturzustand nur durch Unterwerfung unter einem Souverän aufheben. In der Erzählung vom Paradies sieht er einen Beleg für die Notwendigkeit des Gehorsams von Untertanen gegenüber Autoritäten.

Die Offenbarungen der Propheten entspringen allein der menschlichen Fantasie

Die biblische Erzählung des Exodus ist laut dem amerikanischen Sozial- und Moralphilosophen Michael Walzer die beispielhafte Geschichte eines gesellschaftlichen Befreiungsprozesses. Das von Moses angeführte Volk hofft nicht in passiver Weise auf seine jenseitige Erlösung, sondern entledigt sich selbstermächtigt der despotischen Herrschaft Ägyptens und zieht davon in der Hoffnung auf ein menschenwürdigeres Leben. Die Zehn Gebote sind für den Aufklärer Immanuel Kant nicht allgemeine ethische Prinzipien, sondern vielmehr konkrete politische und soziale Gesetze des jüdischen Volkes. Und sie entsprechen damit nicht seinen Kriterien für eine ethisch vernunftvolle Vernunftreligion.

Für Sigmund Freud, dem Vater der sich stark aufs Sexualleben konzentrierenden Psychoanalyse liegt es nahe, sich mit dem Verhältnis von Religion und Sexualität zu befassen. Er kommt zu folgendem Resultat: Monotheismus ist Sublimierung, die religiöse Ethik beruht auf Triebverzicht. Sigmund Freud schreibt: „Die Religion, die mit dem Verbot begonnen hat, sich ein Bild von Gott zu machen, entwickelte sich im Laufe der Jahrhunderte immer mehr zu einer Religion der Triebverzichte.“ In seinem 1670 anonym veröffentlichten „Theologisch-politischen Traktat“ kritisiert Baruch de Spinoza die Bibel als ein Werk, das vor allem politische Macht begründet. Die Offenbarungen der Propheten fließen für ihn nicht aus der einen Substanz Gottes, sondern entspringen allein der menschlichen Fantasie.

Von Hans Klumbies