Die Gipfel der Berge ziehen viele Menschen fast magisch an

Um einmal ganz oben auf einem Berggipfel gestanden zu sein, quälen sich Menschen, obwohl sie das ansonsten überhaupt nicht gerne tun. Sie steigen hinauf und wieder runter – scheinbar ohne ersichtlichen Grund. Einen Weg, der das Ziel ist, gibt es für sie nicht. Alles was zählt, ist ganz oben gewesen zu sein. Vielleicht besteigen Menschen die Berge auch nur, um einmal zu spüren, wie es sich anfühlt, ganz oben zu stehen und eine herrliche Aussicht zu genießen. Der Aufenthalt auf dem Gipfel währt nie lange und oft will ganz oben nicht einmal ein Glücksgefühl einstellen. Wenn sie es geschafft haben, sind viele Menschen zu erschöpft, um sich zu freuen. Sie rasten sich kurz aus, schauen in die Ferne und steigen dann wieder ins Tal hinab.

Der moderne Alpinismus wollte die ungezähmte Natur erobern

Um ein Verständnis dafür zu bekommen, warum Menschen die höchsten Spitzen der Berge so faszinieren, muss man sich klarmachen, dass der moderne Alpinismus von Anfang an ein Projekt war, die ungezähmte Natur zu erobern. Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein war die Welt der Berge eine Art unentdeckter Kontinent – ihre höchsten Gipfel galten als unbesteigbar. Dadurch wurde der Ehrgeiz der frühen Bergsteiger geweckt. Spirituelle oder romantische Motive spielten dabei keine Rolle.

Die Pioniere unter den Bergsteigern begannen zu klettern, um die letzten Reste Natur vor der eigenen Haustür zu bezwingen, zu erkunden und damit messbar zu machen. Heute ist das Bergsteigen zu einem Massensport geworden. Sogar auf dem Mount Everest waren allein im Jahr 2007, dem Jahr mit den bisher meisten Gipfelsiegen, 633 Menschen. Bis zu seiner Erstbesteigung im Jahr 1953 herrschte die Meinung, kein Mensch könne den Gipfel des höchsten Berges der Welt jemals erreichen.

Bergsteigen hat etwas mit dem Paradoxon der freiwilligen Quälerei zu tun

Irgendwie gehört es auch zum Bergsteigen Sinn aus dem Sinnlosen zu schöpfen. Letztendlich dreht sich alles nur um den Gipfel. Heute fällt es allerdings schon schwer eine Bergspitze zu finden, auf der noch nie ein Mensch gestanden ist. Nach mehr als 200 Jahren des modernen Alpinismus sind Erstbesteigungen eine Rarität geworden. Gute Chancen haben Bergsteiger, die sich mit einer solchen Leistung verewigen möchten vor allem in Indien, Nepal, Tibet, Bhutan und Pakistan. In diesen Ländern sind viele Gipfel, die höher als 7.000 Meter sind, noch unbestiegen.

Der Geisteswissenschaftler Wolfgang Lenzen, selbst Bergsteiger, erklärt, warum sich Menschen auf Bergspitzen quälen. Um Bergsportler zu verstehen, müsse man seiner Meinung nach beim Paradoxon der freiwilligen Quälerei ansetzen. Extrembergsteigen ist für ihn auf den ersten Blick eine absurde Plackerei. Wolfgang Lenzen fügt hinzu: „Diese ist ein notwendiges Übel, das lediglich als Mittel zum Erreichen eines subjektiv wichtigeren – manchmal nachgerade magischen – Ziels in Kauf genommen wird.“

Von Hans Klumbies