Die Aufklärung gilt als Zeitalter der Vernunft

Die Aufklärung wurde und wird gerne als das Zeitalter der Vernunft bezeichnet. Zweifellos war „Vernunft“ eine der großen Leitbegriffe der Aufklärung, die Hoffnung auf Vernunft zusammen mit der Hoffnung auf Freiheit eine ihrer großen Leitideen. Dies gilt besonders für die Idee einer allgemeinen Menschenvernunft, worin in jeder seine Stimme hat. Zu den erklärten Zielen der Aufklärung gehört die „Ausbesserung“ des Verstandes und die Läuterung des Willens, insgesamt also die Beförderung der theoretischen und praktischen Vernunft im Individuum und im Gemeinwesen. Der Mensch sollte sich mittels des richtigen Gebrauchs seines Vernunftvermögens selbst befreien und intellektuell, besonders aber moralisch, vervollkommnen. Als die Voraussetzung für die Realisierung wurde die allgemeine Menschenvernunft als Naturanlage und die Gewährung von für die Äußerung, den Austausch und die Verbreitung vernünftiger Gedanken erforderlichen Grundfreiheiten als äußere Bedingungen betrachtet.

John Locke entwickelt ein Modell der menschengerechten Vernunft

Freilich setzte diese programmatische Leitfunktion der Vernunft weder voraus, dass es ein einheitliches Verständnis von ihr gab, noch dass die Einstellungen zu ihr in jeder Hinsicht übereinstimmten. In der Aufklärung standen die subjektive Bedeutung, Vernunft als individuelle menschliche Seelenkraft, und eine moderate objektive Bedeutung im Mittelpunkt, nach der sich die Rede von Vernunft auf die Inhalte und die Verknüpfung vernunftgemäßer Wahrheiten bezieht. Keinesfalls war die Epoche der Aufklärung jedoch das Zeitalter naiver Vernunftgläubigkeit und kalter Verstandesherrschaft.

Zu einem bizarren „Kult der Vernunft“ kam es erst, als die Französische Revolution gegen Ende des 18. Jahrhunderts in ihre letzte, fanatische Phase eintrat. In den Aufklärungsbemühungen davor waren neben Vorzügen und Stärken gerade die Schwächen und Grenzen der Vernunft akzentuiert worden. Besonders John Locke war es gelungen, ein überzeugendes Modell einer bescheidenen und menschengerechten Vernunft zu entwickeln, das stark auf die Aufklärungsbewegungen ausstrahlte. In der Aufklärung bestand sogar mehr Einigkeit über die kritischen und destruktiven Funktionen und Leistungen der Vernunft als über ihr konstruktives Potential.

Die Waffe der Aufklärung war die frei und öffentlich kritisierende Vernunft

Dies galt jedenfalls für die theoretische Vernunft und dort besonders für die klassischen Fragen der Metaphysik und der Theologie. Im Bereich der praktischen Vernunft, insbesondere im Bereich der Moral und der Politik, traute man der konstruierenden Vernunft erheblich mehr zu: So wurde in den politischen Theorien mit großer Energie und beachtlicher Wirkung an den Vernunftkonstruktionen wie Naturzustand, Gesellschaftsvertrag, Idee einer republikanischen Verfassung weitergearbeitet, die den modernen, freiheitlichen Staat ermöglichten.

Dabei wurde der legitime Staat von der konstruierenden Vernunft politischer Denker wie Thomas Hobbes, Jean-Jacques Rousseau und Immanuel Kant gerade so ersonnen, dass er einem Zeitalter der Aufklärung Schutz gewähren, ja es aufblühen und gedeihen lassen konnte. Damit schuf die konstruktive praktische Vernunft einen Schutzraum für die kritische Vernunft. Aber eigentlich war die Aufklärung von ihren Anfängen bei Pierre Bayle bis hin zu Immanuel Kant das eigentliche Zeitalter der Kritik, ihre Waffe die frei und öffentlich kritisierende Vernunft. Quelle: „Handbuch Europäischer Aufklärung“ von Heinz Thoma (Hrsg.)

Von Hans Klumbies