Deutsch und zugleich zivilisiert zu sein ist möglich

Wie kein anderer Intellektueller hat Thomas Mann mit der Frage gerungen, ob es möglich sei, das zu sein: zugleich deutsch und zivilisiert. Für Thea Dorn scheint er der vorzüglichste Spiritus Rector zu sein, auf den man sich berufen kann, wenn man das Deutsche begreifen und für den künftigen Gebrauch retten will. Im Mai 1945 hielt der von den Nazis ins Exil getriebene Schriftsteller, der mittlerweile die amerikanische Staatsbürgerschaft hatte, in der Washingtoner Library of Congress einen berühmt gewordenen Vortrag. Darin versuchte er, sich, den Deutschen und seinem amerikanischen Publikum zu erklären, wie es zu der deutschen Barbarei hatte kommen können: „Es [gibt] nicht zwei Deutschland […], ein böses und ein gutes, sondern nur eines, dem sein Bestes durch Teufelslist zum Bösen ausschlug.“ Thea Dorn studierte Philosophie und Theaterwissenschaften. Sie schrieb eine Reihe preisgekrönter Romane, Theaterstücke und Essays.

Thomas Mann hält eine Rede über „Deutschland und die Deutschen“

Thomas Mann fährt fort: „Das böse Deutschland, das ist das fehlgegangene gute, das gute im Unglück, in Schuld und Untergang. Darum ist es für einen deutsch geborenen Geist auch so unmöglich, das böse, schuldbeladene Deutschland ganz zu verleugnen und zu erklären: >Ich bin das gute, das edle, das gerechte Deutschland im weißen Kleid, das böse überlasse ich euch zur Ausrottung.< Nichts von dem, was ich […] über Deutschland zu sagen oder flüchtig anzudeuten versuche, kam aus fremdem, kühlem, unbeteiligtem Wissen; ich habe es auch in mir, ich habe alles am eigenen Leibe erfahren.“ Diese Rede über „Deutschland und die Deutschen“ ergreift Thea Dorn immer noch. Weil sie so klug ist. So schonungslos. So verzweifelt und dennoch so unweinerlich. Weil sie ihr die einzige Form deutscher Selbstkritik zu sein scheint, welche die Tür in eine bessere Zukunft des Deutschen aufstößt. Denn steht Thomas Mann nicht mit seinem gesamten Leben, Denken und Schreiben dafür ein, dass es einen Weg gibt vom Deutschen, der nichts von „Zivilisation“ wissen will, ja: diese rundheraus als das Gegenteil „deutscher Kultur“ verachtet, zum Deutschen, der ein leidenschaftlicher Verfechter eben dieser früher verachteten „Zivilisation“ wird? Die Deutschen sollten nicht jeden Patriotismus ablehnen

Anders gesagt: Ist Thomas Mann nicht der leibhaftige Beweis dafür, dass es möglich ist, zivilisiert zu werden und trotzdem deutsch zu bleiben? Die heute lebenden Deutschen wissen, dass das Deutschland ihrer Väter und Mütter beziehungsweise ihrer Großväter und Großmütter oder für viele mittlerweile: ihrer Urgroßväter und Urgroßmütter einem mörderischen Nationalismus verfallen war. Weil sie um diese erbliche Belastung wissen, ist es an ihnen, besonders achtsam zu sein, wenn jemand eine Flache mit der Aufschrift „Patriotismus“ öffnet.

Aus diesem Wissen folgt aber nicht, dass die Deutschen die Hände von jeglichem Patriotismus lassen sollten. Thea Dorn begreift das Deutsche nicht als schlichten Gegensatz zum Dumpfen, so wie es geschieht, wenn das „helle Deutschland“ gegen „Dunkeldeutschland“ in Stellung gebracht wird. Vielmehr will sie das Deutsche inständig ermahnen, nicht ins Dumpfe umzuschlagen, eben weil sie ein Bewusstsein davon hat, dass es stets gefährdet ist; weil sie davor warnen will, sich auf der sicheren Seite zu wähnen. Quelle: „deutsch, nicht dumpf“ von Thea Dorn

Von Hans Klumbies