Im Traum nähert man sich dem Zustand des reinen Seins an

Jede Nacht erlebt man in Träumen so intensive Empfindungen oder Gefühle, dass sie den Geist beinahe vollständig ausfüllen und wenig oder keinen Raum für Selbstwahrnehmung, Reflexion oder die Bildung von Erinnerungen lassen. Es gibt viele Formen der Halluzinationen. Manche sind Symptome psychischer Erkrankungen. Wenn Menschen halluzinieren, rufen sie nicht einfach nur eine Erinnerung ab, sondern sie durchleben sie noch einmal. David Gelernter fügt hinzu: „Wir betrachten das Erlebnis nicht nur von außen, sondern treten noch einmal in es ein. Eine halluzinierte Erinnerung ist mitreißender, umfassender und aufmerksamkeitserregender als eine gewöhnliche Erinnerung.“ In der Regel überwältigt die Halluzination den Halluzinierenden. In der Regel lässt man sich in Halluzinationen hineinziehen. Halluzinieren ist in der Regel gleichbedeutend mit Träumen. David Gelernter ist Professor für Computerwissenschaften an der Yale University.

Das Überbewusstsein schließt die Selbstwahrnehmung aus

Wenn man träumt, reflektiert man meist nicht über den Traum, in dem man sich gerade befindet. Das reine Erleben – reine Gefühle und Empfindungen – sind überwältigend, und man nähert sich einem Zustand des reinen Seins an. Deshalb schreiben die Traumforscherinnen Inge Strauch und Barbara Meier, dass sich die Träumer beim Träumen „vorwiegende einem Augenblicksgeschehen hingeben“ und dass „dies die ganze Aufmerksamkeit gefangen nimmt“. Da ist kein Raum für irgendetwas anderes.

Eine Halluzination oder ein Traum ist von seinem ganzen Wesen her ein beherrschendes, involvierendes Erlebnis, das den Geist fast völlig in Beschlag nimmt. Das Überbewusstsein schließt die Selbstwahrnehmung aus. Menschen werden reines Empfinden, reine Emotion. In diesem Bereich des reinen Seins löst sich das Ich auf. Schon seit Generationen weiß man, dass das Traum-Ich fast immer im Mittelpunkt der Traumhandlung steht – aber es ist grundlegend anders als das Ich im Wachzustand.

Erleben kann man aber nur den gegenwärtigen Augenblick

Der Mensch braucht eine „Ich-Gestalt“, die die Traumhandlung organisiert, aber das Traum-Ich ist so seltsam, dass es die Geschichte des Überbewusstseins fast allein erzählt. Da die gesamte Aufmerksamkeit dem Schauspiel des Traumes gewidmet ist, bleibt nichts mehr für die Beobachtung des träumenden Geistes übrig. Wie groß der Anteil ist, den man in seinem Leben mit Träumen verbringt, lässt sich nur schwer abschätzen. Aber dieser Teil plus die Zeiträume, an die man sich nicht erinnert und die zum Träumen führen, stellen jenen Abschnitt des eigenen Erlebens dar, den man nicht zum eigenen Leben zählt.

Wenn ein Mensch schläft oder träumt, ist er in seine eigenen Erinnerungen versunken, in einer seltsamen, privaten Welt, in der die Außenwelt nur dann ein wenig hörbar wird, wenn sie laut ist. Natürlich kann man bewusst an die Vergangenheit oder die Zukunft denken. Erleben kann man aber nur den gegenwärtigen Augenblick und keinen anderen. Selbst wenn man die Vergangenheit noch einmal durchlebt, geschieht das in diesem Augenblick, jetzt. Gedanken können bewusst oder unbewusst sein. Quelle: „Gezeiten des Geistes“ von David Gelernter

Von Hans Klumbies