Die Demut führt zur Weisheit

Der sich selbst zurücknehmende Mensch ist wohltuend und gütig, während der sich selbst anpreisende Mensch fragil und misstönend ist. David Brooks erläutert: „Demut ist Freiheit von dem Bedürfnis, sich ständig als überlegen beweisen zu müssen, während Egoismus ein unbändiger Hunger auf kleinstem Raum ist – um sich selbst besorgt, konkurrenzbetont und statusgetrieben. Demut ist durchdrungen von angenehmen Gefühlen wie Bewunderung, Kameradschaft und Dankbarkeit.“ Michael Ramsey, der Erzbischof von Canterbury ergänzt: „Dankbarkeit ist ein Boden, auf dem Stolz nicht leicht gedeiht.“ Diese Art von Bescheidenheit hat auch intellektuell etwas Beeindruckendes. Wie der Psychologe Daniel Kahneman schreibt, haben Menschen eine beinahe unbegrenzte Fähigkeit, die eigene Unwissenheit zu ignorieren. David Brooks arbeitet als Kommentator und Kolumnist bei der New York Times. Sein Buch „Das soziale Tier“ (2012) wurde ein internationaler Bestseller.

Die Weisheit besteht nicht aus einem Schatz von Wissen

Demut ist das Bewusstsein, dass es vieles gibt, was Menschen nicht wissen, und dass ein Großteil dessen, was sie zu wissen glauben, verzerrt oder falsch ist. Auf diese Weise führt Demut zur Weisheit. Der französische Philosoph Michael de Montaigne schrieb einmal: „Auch wenn uns die Gelehrsamkeit anderer gelehrt machen sollte – weise sein können wir nur durch unsere eigene Weisheit.“ Das ist darauf zurückzuführen, dass Weisheit nicht aus einem Schatz von Wissen besteht. Es ist die moralische Qualität, die darin besteht, zu wissen, dass man nicht weiß, und einen Weg zu finden, um mit seiner Unwissenheit, seinen Zweifeln und Begrenzungen zurechtzukommen.

Menschen, die man für weise hält, haben, jedenfalls bis zu einem gewissen Grad, die Voreingenommenheiten und den Hang zu übersteigertem Selbstbewusstsein überwunden, die der menschlichen Natur innewohnt. David Brooks erklärt: „In ihrer umfassendsten Bedeutung ist intellektuelle Demut zutreffende Selbsterkenntnis aus einer gewissen Distanz.“ Schließlich imponiert Demut auch als eine moralische Eigenschaft. Jede Epoche hat ihre eigenen bevorzugten Methoden der Selbstkultivierung, ihre eigenen Strategien der Charakterbildung.

Das Selbst ist tief gespalten

Heute betrachten viele Menschen ihr Leben als eine Reise im metaphorischen Sinne – eine Reise durch die äußere Welt und die Leiter des Erfolgs hinauf. Wenn Menschen darüber nachdenken, wie sie etwas bewirken oder ein sinnerfülltes Leben führen können, fällt ihnen oft irgendeine äußere Leistung ein – etwas, das die Welt verändert, den Aufbau eines erfolgreichen Unternehmens oder ein Dienst für die Gemeinschaft. Auch wahrhaft demütige Menschen nutzen diese Metapher, um ihr eigenes Leben zu beschreiben.

Aber parallel dazu nutzen sie noch ein anderes Bild, das mehr mit dem Innenleben zu tun hat. Dies ist die Metapher der Konfrontation mit sich selbst. Sie gehen von der Annahme aus, dass das menschliche Selbst tief gespalten ist, dass es einerseits hervorragend begabt und andererseits zutiefst mangelhaft ist – dass jeder gewisse Fähigkeiten, aber auch bestimmte Schwächen hat. Und wenn man diesen Versuchungen gewohnheitsmäßig verfällt und nicht gegen die Schwächen in sich ankämpft, dann wird man allmählich den Kern des eigenen Wesens beschädigen. Quelle: „Charakter“ von David Brooks

Von Hans Klumbies