Das Wort wird als Waffe entdeckt

Der Siegeszug der zugleich religiösen wie politischen Neuerung des 16. Jahrhunderts im Norden Europas, die unter dem Namen „Reformation“ bekannt ist, wurde hauptsächlich durch Literatur mitentschieden, insbesondere durch ein literarisches Medium, das damals seine Blütezeit erlebte: die Flugschrift. Die im Spätmittelalter, seit etwa dem ersten Drittel des 14. Jahrhunderts sich anbahnende Veränderung der Gesellschaftsstruktur bewirkte einen Prozess der Veränderung des Bewusstseins breiter Kreise, und diese wiederum konnten au die Praxis einwirken. Ein Vorgang, der sich in Sprache vollzog, mittels des geschriebenen und gesprochenen Wortes, der Literatur vor allem, die am weitesten wirkte, das hieß in erster Linie in Form der Gebrauchs- und didaktischen Literatur und Polemik. Was die Menschen neu erfuhren, war die Macht des Worts. Das auf diesem Wege entstehende Bewusstsein bedeutete: Gewinnung von Einsichten in den Zusammenhang der sozialen Realität; Formulierung dieser Einsichten unter den Bedingungen des Zeitalters, Gedanken, Vorstellungen, Ratschläge, Pläne.

Die Literatur leitete zum umgestaltenden Handeln ein

Die Literatur begann, Einfluss auf den Willen beachtlicher Bevölkerungsteile durch Ideen, Argumente, Forderungen, Kampfrufe, aber auch durch Utopien und phantastische Träume zu nehmen, kurz: Sie leitete zum umgestaltenden Handeln an. Sie stellte so – im Vergleich zu den vorausgegangenen Epochen – etwas prinzipiell Neues dar, einen Bestandteil der umfassenden religiös-politischen Umwälzung, an der sich fast die gesamte deutsche Nation beteiligte, für sie streitend oder sie bekämpfend.

Während dieser religiös-politischen Revolution – sie dauerte ein knappes Jahrzehnt, vom Thesenanschlag Martin Luthers (1517) bis zum Ende des Bauernkriegs, seiner endgültigen Niederlage in den Alpen (1526) – fungierte die Literatur der Zeit nicht als illustrierende Zugabe, als begleitender Kommentar oder Beleg für einen von ihr abgetrennten Vorgang. Sie bildete vielmehr einen wesentlichen, die Praxis mitbestimmenden Teil der geschichtlichen Bewegung. Vor allem entwarf sie ein ungewohntes Wirklichkeitsbild.

Ständische und lokale Schranken werden überwunden

Die Literatur spiegelte die Realität dergestalt, dass sie dem „gemeinen Mann“ – so nannte man in der Epoche die Angehörigen der Unterschichten in der Stadt und auf dem Lande – als ebenso überlebt wie veränderungsbedürftig vorgeführt wurde. Der neuen Darstellung der Wirklichkeit entsprach ferner der Entwurf eines erneuerten Menschenbilds: der „gemeine Mann“ selbst, der Bauer und der Handwerker, trat als zentrale Figur in die Literatur ein, in der er vorher entweder gar keine oder allenfalls eine Rolle am Rande gespielt hatte.

Nun stand er gleichberechtigt neben den Rittern, den Geistlichen und den Fürsten, manchmal sogar als Richter über dem Adel und Klerus. Und neu war ebenfalls die Überwindung ständischer und lokaler Schranken. Jetzt wandten sich Schreibende – Handwerker, geistliche und weltliche Gelehrte, Ritter und gelegentlich sogar Fürsten – häufig nicht mehr nur an einen Stand, an einen begrenzten Adressatenkreis, sondern an die Mehrheit der Bevölkerung, an den „gemeinen Mann“. Alles in allem war, was hier stattfand, im Zusammenhang mit der kulturellen Revolution eine literarische. Quelle: „Deutsche Literaturgeschichte“ aus dem Verlag J. B. Metzler

Von Hans Klumbies