Das Nibelungenlied setzt sich aus zwei Liedfabeln zusammen

Das Nibelungenlied ist im Zeitraum der staufischen Literaturepoche das einzige Heldenepos geblieben, das erhalten wurde. Vom 13. bis ins 16. Jahrhundert sind drei Dutzend Handschriften bekannt. Wahrscheinlich ist das Nibelungenlied zwischen 1200 und 1210 entstanden. Der unbekannte Dichter war vielleicht zwischen Passau und Wien beheimatet. Er hat dem Nibelungenlied sein ritterlich-höfisches Gepräge gegeben und gleichzeitig zu einer Sprache gefunden, die sein höfisches Publikum mitreißen musste. Nicht nur der ungewöhnliche Stoff, deren heidnisch-germanischen Grundzüge immer wieder unter der ritterlichen Patina durchbrechen, sondern vor allem dessen Bändigung in einer schmucklos-klaren, selbstbewussten Strophik muss einen exotischen Reiz ausgeübt haben. Das Nebeneinander älterer und jüngerer Schichten ist für das Nibelungenlied charakteristisch. Es ist allerdings nicht aus einem Guss einer einmaligen und energischen Bearbeitung.

Die Helden sind uneinheitlich gestaltet

Es setzt sich zunächst aus zwei Liedfabeln von Siegfried und seiner Ermordung und dem Untergang der Burgunden am Hof Etzels zusammen. Das oberflächliche Bindeglied ist die Gestalt der Kriemhild, aber auch sie bildet keine einheitliche Figur, sondern erscheint im ersten Teil als liebliches, umworbenes Mädchen, während sie im zweiten Teil von den düsteren Zügen der Rache geprägt ist. In dieser Disparatheit hat der Dichter des Nibelungenlieds seinen Stoff vorgefunden und getreulich konserviert.

Uneinheitlich sind auch die Helden gestaltet. Während Hagen als heroischer Held klaglos stirbt und damit seine Schicksalsergebenheit demonstriert, gerät in der Gestalt Rüdigers die Todesahnung zu einem tragischen Konflikt, den das heroische Heldenlied nicht kennt. Wie Dietrich von Bern ist Rüdiger ein Sinnbild ritterlicher Humanität. Dietrich von Bern stellt mehrmals die Überlegenheit des höfischen Ritters unter Beweis und verzögert so den Ablauf der Tragödie. Er ist aber auch kein Artusritter, weil er die tragische Einsicht in die Schicksalshaftigkeit des Geschehens hat und es selbst zu Ende führt.

Hagen und Kriemhild sind gleichwertige Gegenspieler

In krassem Gegensatz zu ihm steht Hagen, eine autochthone Figur der heroischen Frühzeit, der kaltblütig, ja höhnisch den Mord an Siegfried bekennt. Ihm konträr zugeordnet ist die Rächerin Kriemhild, die aus einer gefühlsbetonten, der Reinheit und Ehre ihrer Sippe verpflichtenden Haltung heraus handelt. Dass sich Hagen und Kriemhild, eine Frau und was für eine, als Gegenspieler auf einer gleichwertigen Ebene bewegen, ist für das höfische Publikum ebenfalls ungewohnt. Durch das Nibelungenlied zieht sich die Gewissheit des schicksalhaften Ausgangs wie ein roter Faden.

Im Nibelungenlied wird deutlich, dass heroisches Geschehen historisch verbürgtes einmaliges Geschehen ist. Seine Handlungsträger sind nicht als Typen, sondern als Individuen verfasst, und einen entsprechend hohen Rang nimmt deren Tod ein. Auch die Handlungen sind im heroischen Lied nicht wiederholbar, sie ergeben kein Muster, das so oder so besetzt werden kann. Das Nibelungenlied ist nur in dieser einmaligen Form denkbar, und in der Tat ist trotz seiner schriftlichen Fixierung keine stil- und literaturbildende Wirkung von ihm ausgegangen. Quelle: „Deutsche Literaturgeschichte“ aus dem Verlag J. B. Metzler

Von Hans Klumbies