Seine primäre Heimat kann kein Mensch wählen

Heimat ist ein Zufall. Sie fällt einem Menschen zu und ist immer schon da. Man kann seine Heimat nicht verantworten, wie man auch nichts kann für das Faktum seiner Geburt. Christian Schüle fügt hinzu: „Der Mensch kann seine primäre Heimat nicht wählen, was er wählt, ist ein Zuhause. Oder eine zweite, dritte, vierte, Wahlheimat.“ Heimat ist Schicksal, wohingegen Wahlheimat das Ergebnis einer Befreiung vom Schicksal der Heimat ist; die gewählte Heimat ist frei vom Verhängnis einer auferlegten Zuschreibung der Identität. Heimat hingegen trägt manchmal schwer an der Unfreiheit einer nicht gehabten Wahl, an diesem Ort, in dieser Zeit geboren worden zu sein. Christian Schüle ist freier Autor und Publizist. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt er Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

Jede Biographie gründet in Heimat

Christian Schüle schreibt: „Wenn Heimat wahlfrei unser Selbst begründet, speist sich dieses Selbst aus dem Zugefallensein an einen nicht gewählten Ort, von dem wir, ob wir es wollen oder nicht, unser ganzes Leben lang herkommen und, mehr oder weniger stark, geprägt sein werden.“ Jede Biographie gründet also in Heimat. Durch die Biographie schreibt der Einzelne sein Leben einem Ort ein. Oder anders: Der Ort schreibt sich dem jeweiligen Menschen ein. Als Geburtsort ist Heimat ein untilgbares Faktum und als Beginn einer Biographie nicht auslöschbar.

Der Beginn der eigenen Verortung ist meist physisch, leiblich, materiell; er kann aber genauso psychisch, mental oder virtuell sein. Alles lässt sich tilgen, nicht aber der Ursprung des eigenen Selbst am Ort der Untilgbarkeit. Christian Schüle erläutert: „Die Koordinate des Ursprungs führt Heimat, Herkunft und Raum sehr nahe zu einer möglichen Identität zusammen.“ Heimat und Herkunft sind subjektiv wahr, denn Heimat ist immer die eigene, ist immer „meine“: der Boden, von dem man kommt, die Familie, von der man abstammt.

Die Heimat steht immer am Beginn der eigenen Welt

Klar ist auch: In der Heimat steckt immer auch ein Machtverhältnis, weil der Zufall Fremdbestimmung bedeutet. Man ist dem Zufall wahllos ausgeliefert und kann ihn durch kein Handeln steuern. Was einem Menschen ohne Wahl zufällt, beherrscht ihn auch. Er kann sich dagegen wehren und sträuben, gewiss, er kann jammern und leiden, aber er wird seine heimatliche Herkunft nie besiegen, selbst wenn er seine Heimat im Rückblick hasst, verachtet oder ignoriert. Im letzten Fall hätte er ein Negativverhältnis zu Heimat, die aber auch dann sein Bezugspunkt bleibt.

Heimat ist der Herrschaftsraum der Möglichkeit persönlicher Freiheit aus der Unfreiheit ihres Zufalls. Nach dem Philosophen Ludwig Wittgenstein ist die Welt all das, was der Fall ist. Christan Schüle ergänzt: „Der Zu-Fall der Heimat ist nicht der Fall, aber er steht am Beginn „meiner“ Welt.“ Die jeweilige Heimat eines Menschen zeichnet sich durch ihre Einzigartigkeit aus. Die ureigene Geschichte jedes Individuums ist die Konstruktion einer Erzählung über die eigene Herkunft. Christan Schüle stellt fest: „Ich bin der Auto-Ethnograf meiner Herkunft; durch mich spricht meine Heimat. Oder anders: Ich spreche als Resultat meiner Heimat.“ Quelle: „Heimat“ von Christian Schüle

Von Hans Klumbies