Die Identität eines Menschen besteht in seiner Erzählung

So gut wie alle Wissenschaften vom Menschen – vornehmlich die Cultural Studies, Anthropologie und Geschichtswissenschaft – sind sich darin einig, dass die Identität eines Menschen in der Erzählung besteht, die ihm aus sich zu manchen gelingt. Christian Schüle ergänzt: „Eine Person ist ihre Geschichte, und Heimat ist das Narrativ dieser Geschichte. Nur in der Schilderung meiner Realität erlangt die Geschichte meiner Person Glaubwürdigkeit.“ Nur über das Narrativ wird Herkunft zur Identität. Christian Schüle formuliert es noch genauer: „Die Identität ist selbst das Narrativ: Ich bin, was ich von mir erzähle.“ Dabei ist zu beachten, dass die Erinnerung nicht mit dem Gedächtnis gleichzusetzen ist, obwohl sie sich natürlich nicht vom Gedächtnis trennen lässt. Christian Schüle ist freier Autor und Publizist. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt er Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

Leben ist Erinnern

Das Gedächtnis wiederum lässt sich vom Geist und jener vom Gehirn nicht trennen. Erinnern ist ein Vorgang. Gedächtnis ein Lager. Christian Schüler erklärt: „Erinnern ist die Plünderung des Gedächtnisses als Tätigkeit des Gehirns mithilfe des Gehirns.“ Erinnerungen können einem Menschen plötzlich passieren und willkürlich hervorgerufen werden. Der Erinnernde ist wie ein Wanderer, der die Landschaft seiner eigenen biografischen Welt durchschreitet, für andere unverständlich, nicht mitteilbar.

Seine Erinnerungen und seine Heimat sind das Einzige, das dem Individuum allein gehört. Der Akt des Erinnerns ist so komplex, dass darin so gut wie alles spezifisch Menschliche involviert ist: Emotion, Gefühl, Traum, Bewusstsein, Geist, Poesie. Erinnerungen entschweben der Tiefe des Geistes, urplötzlich, ohne dass man sie kontrollieren könnte. Kein Verstand ist in der Lage, eine Erinnerung zu bändigen. Erinnern heißt Leben, oder andersherum: Leben ist Erinnern. Oder wie der renommierte Gedächtnisforscher Daniel Schacter befindet: „Wir sind Erinnerung.“

Der Erinnerung wohnt eine gewisse Magie inne

Die Reise an einen entscheidenden, prägenden, von Emotionen codierten Ort zurück ist nur dem Menschen möglich. Die Magie des Erinnerns zeigt den Fortschritt der Evolution und ist zugleich die denkbar höchste Form von Freiheit. Durch diese Freiheit entsteht Schmerz. Und so entsteht Heim-Weh. Die unwillkürliche Reise zurück in die Kindheit und die Jugend nennt die Literatur- und Gedächtniswissenschaft „Proust-Phänomen“. Wegweisende Studien haben empirisch belegen, jedoch nicht restlos erklären können, ob es vor allem die frühen Erinnerungen sind, die über Gerüche ausgelöst werden, oder ob es prinzipielle Erinnerungen sind, die nur über Geruchsassoziationen möglich sind.

Gerüche vermögen einen von einem Moment zum anderen in eine Stimmung zu versetzen, die einem erst noch ein Rätsel ist. Das scheinbar zu allem fähige menschliche Gehirn hat die charmante Unfähigkeit, Ort und Quelle eines erlebten Ereignisses keineswegs klar identifizieren zu können. Sie vermischen und vermengen sich. Die Erinnerungsforschung unterscheidet zwischen dem deklarativen und dem nicht deklarativen Gedächtnis. Das deklarative ist das bewusste, willkürliche, das nicht deklarative das unbewusste, unwillkürliche Gedächtnis. Quelle: „Heimat“ von Christian Schüle

Von Hans Klumbies