Christian Schüle seziert den Begriff der Heimat

In seinem neuen Buch „Heimat“ enttarnt er in der Form einer kritischen Zeitdiagnose die nostalgischen Verklärung von Heimat als Phantomschmerz und setzt allem Rückwärtsgewandten die Haltung des aufgeklärten Humanisten entgegen. Sie verbindet das Bedürfnis aller Menschen nach Zugehhörigkeit und Identität mit den Grundwerten der Demokratie. Dazu zählt Christian Schüle Pluralismus, Toleranz und Freiheit. Heimat – das ist zuerst einmal die Erinnerungen an die eigene Kindheit und Herkunft, die meist in einem rosaroten Licht erscheinen. Deshalb ist es mit Schmerzen verbunden, wenn die Heimat verlorengeht. Christian Schüle ergründet, wie dieser Schmerz in den Zeiten der Digitalisierung, der Globalisierung und der Migration gestillt werden kann. Christian Schüle ist freier Autor und Publizist. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt er Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

Jeder Mensch reist manchmal im Geiste zu seinen Wurzeln zurück

Christian Schüle beginnt mit seiner Erforschung des Begriffs der Heimat mit Marcel Proust „Suche nach der verlorenen Zeit“ und endet bei der neu entdeckten Liebe der Deutschen zur Natur. Er beschreibt den Homo sacer, den Menschen mit dem Kainsmal, der als Flüchtling durch die Welt irrt, weil er seine Heimat durch Kriege oder Umweltkatastrophen verloren hat. Er kennt auch den Homo faber, der in der modernen Industriegesellschaft in ständiger Unruhe ist, weil ihm seine Identität geraubt wurde.

Außerdem erzählt Christian Schüle von den öffentlichen Disputen über kulturelle und religiöse Identität. Dabei schließt er die Forderung nach einer neuen Moral mit ein, die das unsägliche Gift des Nationalismus überwindet, weil sie im Fremden das eigene Selbst erkennt. Die Bindung an den Ort des eigenen Ursprungs ist für Christian Schüle mehr als ein Glaube, mehr als Rückbindung, mehr als persönliche Religion. Jeder Mensch reist manchmal im Geiste zu seinen Wurzeln zurück, er kehrt heim, geht wieder die Wege seiner Kindheit und es offenbart sich dabei etwas Unerklärliches.

Der Verlust der Heimat ist schmerzvoll

Es entsteht dabei ein fiktives Gefühl der Vertrautheit, des Vertrauens, des Friedens – man kann es Geborgenheit nennen, man könnte dazu Heimat sagen – während in der anderen, der realen Welt die Menschen sich zerfetzen, zerstören, vergewaltigen, vernichten. Deshalb schmerzt Heimat so, wenn ein Mensch sie verloren hat, wenn er sie aufgeben muss, wenn er ihr wahllos ausgesetzt ist. Heimat kann auch schmerzen, weil sie möglicherweise ein Trugbild ist. Vielleicht existiert die Heimat gar nicht, obwohl jeder Mensch glaubt, eine zu besitzen.

Das Bild der Heimat wird man sein ganzes Leben nie wieder los, es hat sich fest im Gehirn verankert. Und die Frage ist von nun an, ob der Mensch direkt oder indirekt sein Leben lang nach den Spuren seines Ursprungs sucht. Christian Schüle schreibt: „Wohin der Weg auch führt, das Bild ist immer schon da.“ Dabei stellt sich leider auch ein Gefühl schmerzvoller Zerrissenheit in Herkunft und Hiersein, in Utopie und Verortung ein, das bestehen bleibt, solange man an seine Heimat erinnert, in der man zufällig geboren wurde.

Heimat
Ein Phantomschmerz
Christian Schüle
Verlag: Droemer
Gebundene Ausgabe: 249 Seiten, Auflage: 2017
ISBN: 978-3-426-27712-6, 19,99 Euro

Von Hans Klumbies