Missgunst schädigt und verzerrt die Politik

Missgunst ist sicher eine eindrucksvolle Kraft. Aber sie schädigt die Politik und verzerrt sie, sodass sie nicht mehr in freien und gleichen Beziehungen zu andern besteht. Durch Missgunst kann Politik zu einer anderen Form der Rache werden, zur Durchsetzung der eigenen Vorstellungen dienen oder „uns“ gegen „die“ aufbringen. Deshalb handelt Ned O’ Gormans Buch „Politik für alle“ vom Unterschied zwischen authentischer und pervertierter Politik. Natürlich gibt es überall Hinweise darauf, dass die pervertierte Politik sich durchsetzt. Im vergangenen Jahrzehnt hat sich beispielsweise die Polarisierung in den USA auf dramatische Weise verstärkt. Viele Menschen haben sich dort in ihre politischen Kokons verrannt, die sich fernab aller Zweifel, Meinungsverschiedenheiten und anderslautender Daten immer mehr ausbreiten. Ned O’ Gorman ist Professor für Kommunikationswissenschaften an der University of Illinois.

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Niccolò Machiavelli analysiert die Politik

Niccolò Machiavelli kam im Jahr 1469 als Sohn eines Advokaten zur Welt. Eine kleine Bibliothek im Vaterhaus vermittelte ihm eine ordentliche humanistische Bildung. Seine politische Karriere begann er als Leiter der „Zweiten Kanzlei“ von Florenz. Bernd Roeck erklärt: „Es war ein Amt, dass mit der Verwaltung der inneren Verhältnisse befasst war. Zugleich erforderte es eine enge Abstimmung mit der ersten, für Außenpolitik zuständigen Kanzlei.“ Einfluss hat der Sekretär dieser Behörde kaum. Dafür gewann Niccolò Machiavelli Wissen um die Geheimnisse der Politik und die Möglichkeit, die Alchemie zu studieren. „Die Kanzlei“, so schrieb Machiavelli einmal, „war nicht nur ein Ort, wo die Fakten gesammelt und weitergegeben wurden. Sie bildete vielmehr ein Zentrum leidenschaftlicher Diskussionen über florentinische und internationale Politik.“ Bernd Roeck ist seit 1999 Professor für Neuere Geschichte an der Universität Zürich und einer der besten Kenner der europäischen Renaissance.

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Die Bürger der Polis lenken ihre Geschicke selbst

Am Ende des hellenistischen Mittelalters sprach man zum ersten Mal von der Stadt, der Polis. Dabei handelte es sich um eine autonomen Einheit, die ihre eigenen Geschicke lenkte. An ihren Entscheidungen waren oft alle Bürger in freien Diskussionen direkt beteiligt. Die politische Struktur dieser Poleis war extrem variabel und komplex. Es gab Monarchien, Aristokratien, Tyranneien, Demokratien, wettstreitende politische Parteien und Verfassungen. Eine davon war die Verfassung von Solon, die zuerst formuliert und dann wieder umgeschrieben wurden. Carlo Rovelli ergänzt: „Es wird experimentiert: Verschiedene Wege, die kommunale Struktur zu organisieren und zu leiten, werden ausprobiert und wieder verworfen.“ Die griechischen Poleis waren Stätten, wo eine breite Klasse von Bürgern miteinander diskutierten. Sie berieten darüber, wie man die Macht verteilen soll und wie sich Probleme am besten lösen lassen. Seit dem Jahr 2000 ist Carlo Rovelli Professor für Physik an der Universität Marseille.

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In einer idealen Demokratie sind alle gleich

In der öffentlichen Debatte machen sich Bedenken in Bezug auf Ungleichheit oder Gleichheit zumeist an einer Reihe sozialer und ökonomischer Fragen fest. In einer idealen Demokratie besteht die Bevölkerung aus freien und gleichen Bürgern. Deren Gleichheit muss zuallererst als eine Frage sowohl von politischer Gleichheit in Bezug auf die private Autonomie konstituierenden Rechte verstanden werden. Denn diese beiden Rechtsinstitute sind noch in weiteren Hinsichten gleichursprünglich. Danielle Allen stellt fest: „Das Vereinigungsrecht ist nämlich nicht bloß ein auf private Autonomie bezogenes Recht, das zu den heiligen Rechten der Moderne gehört. Im Gegenteil: Seine ersten historischen Auftritte zeigen, dass es untrennbar mit Bemühungen verknüpft ist, die Rechte öffentlicher Autonomie zu gewährleisten.“ Die Politikwissenschaftlerin und Altphilologin Danielle Allen lehrt als Professorin an der Harvard University. Zugleich ist sie Direktorin des Edmond J. Safra Center for Ethics in Harvard.

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Der Sozialstaat sorgt für die Bedürftigen

Heinz Bude begreift den Sozialstaat als Form institutionalisierter Solidarität. Niemand wird hier seinem Schicksal überlassen. Man kümmert sich um jene Mitmenschen, die in eine der drei Kategorien von Versorgungsbedürftigkeit fallen: Alter, Arbeitsunfähigkeit und Arbeitslosigkeit. Heinz Bude nennt sie die drei Standardrisiken der industriellen Arbeitsgesellschaft. Das Arbeitsleben ist ein „gefährdetes Leben“, um Judith Butler zu zitieren. Deshalb bedarf es der Zuverlässigkeit von Solidarität, die den verletzlichen Einzelnen die genügende Erwartungssicherheit verleiht, um mit dieser Situation vielfältiger Gefährdungen zurechtzukommen. Arbeitslosigkeit, Arbeitsunfähigkeit und Alter passieren und verletzen die Einzelnen. Deshalb trägt eine „anständige Gesellschaft“ dafür Sorge, dass die Herabwürdigung und Aussortierung für die Einzelnen nicht zu schlimm ausfallen. Heinz Bude studierte Soziologie, Philosophie und Psychologie. Seit dem Jahr 2000 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Makrosoziologie an der Universität Kassel.

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Sprachliche Einrahmungen sind normal

Die Wortwahl der Alternative für Deutschland (AfD) erfüllt zwei Funktionen. Erstens sendet sie Signale an die rechtsradikalen Wähler. Zweitens verharmlost sie die Radikalität gegenüber der Mehrheitsgesellschaft. Die Horden auf den Straßen von Chemnitz richteten sich bewusst gegen die soziale Erwünschtheit. Rechtsradikale Politiker loten die Grenzen des Sagbaren immer wieder aufs Neue aus. Philipp Hübl ergänzt: „Politiker haben zu allen Zeiten ihre Programme in wirksame Worte verpackt. Vor allem in moralisch umstrittenen Fragen ist die sprachliche Fassung entscheidend.“ Deshalb nannte das US-Militär seinen Einsatz in Afghanistan „Operation dauerhafte Freiheit“ und nicht „Angriffskrieg“. Ein typisches Beispiel für eine sprachliche Einrahmung im Alltag ist der Euphemismus „Lebenskünstler“ für „Arbeitsloser“. Philipp Hübl ist Philosoph und Autor des Bestsellers „Folge dem weißen Kaninchen … in die Welt der Philosophie“ (2012).

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Der Staat muss für Sicherheit sorgen

Die Entwicklung des menschlichen Zusammenlebens zu einem Staat bestimmt das Verständnis des Menschen über seine Fähigkeit zur Freiheit und zum Frieden. Paul Kirchhof erläutert: „Bekämpfen sich die Menschen, muss eine öffentliche Hand herrschen und Sicherheit gewährleisten. Wird der Herrscher zur Bedrohung individueller Freiheit, entwickeln die Menschen ein Regierungssystem der Gewaltenteilung.“ Traut der Staat den Menschen zu, ihre Konflikte letztendlich ohne Gewalt – ohne Faust und Fehde – zu lösen, organisiert er eine Gerichtsbarkeit, die in allein sprachlicher Auseinandersetzung Streit schlichtet und Frieden schafft. Der Kampf findet mit Worten statt, nicht mit Waffen. Dr. jur. Paul Kirchhof ist Seniorprofessor distinctus für Staats- und Steuerrecht an der Universität Heidelberg. Als Richter des Bundesverfassungsgerichts hat er an zahlreichen, für die Entwicklung der Rechtskultur der Bundesrepublik Deutschland wesentlichen Entscheidungen mitgewirkt.

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Die Klimaerwärmung verursacht hohe Kosten

Aus ökonomischer Sicht spricht für Clemens Fuest wenig dafür, bei den Anstrengungen zur Eindämmung des Klimawandels nachzulassen. Man sollte sich jedoch dabei stärker darauf konzentrieren, Klimaziele kosteneffizient zu erreichen und das Verursacherprinzip in den Vordergrund zur rücken. Dabei geht es darum, diejenigen, die den Klimawandel vorantreiben, finanzielle in die Verantwortung zu nehmen. Wirtschaftlich liegt die wichtigste Folge der Coronakrise darin, dass sie in allen betroffenen Ländern den Lebensstandard senkt. Clemens Fuest fordert: „Die Folgen dieses Wohlstandsverlusts für den Klimaschutz kann man ökonomisch aus zwei Perspektiven betrachten.“ Die erste Perspektive betrachtet den Klimaschutz als ein Gut, das bei steigendem Einkommen zunehmend nachgefragt wird. Diese Überlegung führt zu dem Ergebnis, dass künftig eher weniger Ressourcen als bisher geplant für den Klimaschutz eingesetzt werden sollten. Clemens Fuest ist seit April 2017 Präsident des ifo Instituts.

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Politik beginnt mit dem Akt des Loslassens

Eine These von Ned O’Gorman lautet, dass Politik – genau wie elterliche Liebe – mit dem Akt des Loslassens beginnt. Nämlich mit dem Verzicht auf Kontrolle, sodass einer dem anderen nicht als Herr oder Diener, sondern als Gleicher gegenübertritt. Viele Menschen sind daran gewöhnt, Gleichheit und Freiheit für die Ziele politischen Aktivismus zu halten. Ned O’Gorman argumentiert, dass sie der Anfang von Politik sind und Politik ohne sie nicht möglich ist. Zudem fordert er, dass die Menschen zueinander als Gleichgestellte in Beziehung treten müssen. Nicht alle Beziehungen erfüllen jedoch diese Voraussetzung. Man könnte sogar sagen, dass es die meisten nicht tun. Dennoch stellt sich Gleichheit ein. Wenn Menschen einander gleichberechtigt behandeln, treten sie in eine freiheitliche Beziehung. Ned O’Gorman ist Professor für Kommunikationswissenschaften an der University of Illinois.

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Die große Lüge ist auf Gewalt angewiesen

Von George Orwell bis Arthur Koestler waren europäische Autoren des 20. Jahrhunderts besessen vom Gedanken der großen Lüge. Dabei handelt es sich um das ideologische Gebäude des Kommunismus und des Faschismus. Da gab es die Plakate, die Treue gegenüber Partei und Führer verlangten, die marschierenden Braun- und Schwarzhemden, die Fackelzüge und die Geheimpolizei. Anne Applebaum weiß: „Die große Lüge war derart absurd und unmenschlich, dass sie nur mit Gewalt durchzusetzen und aufrechtzuerhalten war.“ Sie verlangte Zwangsbildung, absolute Kontrolle über die Natur und die Instrumentalisierung von Journalismus, Sport, Literatur und Kunst. Die polarisierenden politischen Bewegungen des 21. Jahrhunderts brauchen dagegen keine Massenbewegung. Anne Applebaum ist Historikerin und Journalistin. Sie arbeitet als Senior Fellow an der School of Advanced International Studies der Johns Hopkins University.

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Politische Gleichheit besteht aus 5 Phänomenen

Politische Gleichheit besteht laut Danielle Allen aus folgenden Phänomenen. Aus Herrschaftsfreiheit, gleichberechtigtem Zugang zum Regierungsapparat und epistemischer Egalitarismus. Dazu kommen gleiche, sich auf Praktiken der Gegenseitigkeit stützende Handlungsmacht sowie Mitgestaltung von und Miteigentümerschaft an den politischen Institutionen und deren weiteren Auswirkungen. Wenn man der Argumentation des irischen Politikwissenschaftlers Philip Pettit folgt, heißt Herrschaftsfreiheit im Sinne von Nichtbeherrschung, dass keine willkürliche Einmischung, kein Kontrollvorbehalt droht. In seinem Buch „Gerechte Freiheit“ erklärt Philip Pettit Herrschaftsfreiheit unter Bezugnahme auf den Ausdruck „freie Hand lassen“. Herrschaftsfreiheit setzt mehr voraus als den bloßen Schutz des Grundrechts, dass man seine Religion, politische Partei, Vereinigungen und Arbeitsstelle frei wählen kann. Die Politikwissenschaftlerin und Altphilologin Danielle Allen lehrt als Professorin an der Harvard University. Zugleich ist sie Direktorin des Edmond J. Safra Center for Ethics in Harvard.

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Der Staat muss legitime Rechte garantieren

Der Staat muss Gerechtigkeit walten lassen, die Zivilgesellschaft kann sich Solidarität erlauben. Heinz Bude erläutert: „Gerechtigkeit bedeutet dabei die Zuerkennung legitimer Anrechte. Dafür existieren rationale Verfahren. Diese legen fest, was einem in einer bestimmten Lage zusteht und wofür man selbst geradestehen muss. Es gibt Menschen, die mit ihrer vollzeitigen und unbefristeten Beschäftigung noch unter dem offiziell errechneten Existenzminimum bleiben. Diese können mit einer Aufstockung ihres Einkommens durch einen staatlichen Zuschuss rechnen, der sie noch etwas über den Betrag der Mindestsicherung hebt. Es ist ungerecht, dass man von seinem Verdienst in einem Knochenjob wie der Gebäudereinigung nicht leben und nicht sterben kann. Ebenso ungerecht ist es, wenn man ohne Arbeit genauso viel Geld in der Tasche hätte wie mit Arbeit. Seit dem Jahr 2000 ist Heinz Bude Inhaber des Lehrstuhls für Makrosoziologie an der Universität Kassel.

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Niccolò Machiavelli war kein Humanist

Niccolò Machiavelli (1469 – 1527) hält wenig von der gutgemeinten Idee oder Illusion, wonach die Regierten automatisch bessere Menschen wären als die Regierenden. Dass Macht korrumpiert, ist eine alte Weisheit, die gerne übersehen lässt, dass Ohnmacht es in nicht geringerem Maße tut. Die als unschuldig gewürdigten Opfer sind es oft bloß mangels Gelegenheit. Und ihre moralische Verklärung ist in den Auswirkungen manchmal gar nicht menschenfreundlich. Bis zu seinem Sturz im Februar 1513 ist Niccolò Machiavelli Kanzler für innere und äußere Sicherheit der Republik Florenz unter den Medici. Erst in der Verbannung, auf seinem kleinen Landgut Albergaccio im Dorf Sant` Andrea in Percusina, fünfzehn Kilometer südwestlich von Florenz, wird er zum Theoretiker. Sein Name ist durch seine endlosen Verunglimpfungen den Menschen bis heute so vertraut geblieben.

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Es gibt verschiedene Formen der Freiheit

Die Freiheit zur Selbstgestaltung des eigenen Lebens hat je nach Lebenssituation und persönlichen Zielsetzungen einen unterschiedlichen Inhalt. Paul Kirchhof nennt ein Beispiel: „Als die Deutschen 1945 hungerten, nicht wussten, ob sie den nächsten Winter überleben und ob Krankheiten und Seuchen sie vernichten werden, begehrten die Befreiung aus existenzieller Not. Sie kämpften für die Normalität einer Mahlzeit, eines Mantels, einem Dach über dem Kopf.“ Vorher waren sie ständig von der Geheimen Staatspolizei und von Bombenangriffen bedroht. Jetzt sehnten sie sich nach einer Freiheit von Angst. Sind diese elementaren Bedürfnisse befriedigt, beginnt der Kampf um politische Freiheiten. Dieser wendet sich gegen Tyrannei und Sklaverei. Zudem fordert er eine Freiheit von Unterdrückung. Dr. jur. Paul Kirchhof ist Seniorprofessor distinctus für Staats- und Steuerrecht an der Universität Heidelberg. Als Richter des Bundesverfassungsgerichts hat er an zahlreichen, für die Entwicklung der Rechtskultur der Bundesrepublik Deutschland wesentlichen Entscheidungen mitgewirkt.

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Populisten simplifizieren die Welt

Jan-Werner Müller stellt fest: „Der Populismus ist nicht alleine verantwortlich für Spaltungen in der Gesellschaft. Allerdings setzen die Populisten Polarisierung als ihre Schlüsselstrategie ein.“ Sie versuchen, das politische Gemeinweisen in homogene Gruppen aufzuspalten. Und dann insinuieren sie, dass einige Gruppen grundsätzlich irgendwie illegitim sind oder gar eine existenzielle Bedrohung darstellen. Populisten gehen nicht davon aus, dass die politische Welt durch Identitäten und Interessen gekennzeichnet ist, die sich zum Teil auch quer durch gesellschaftliche Gruppen ziehen. Sie simplifizieren die Welt und stellen die Behauptung einer zentralen Spaltung auf, die zudem von existenzieller Bedeutung sei. Ein Sieg der gegnerischen Seite interpretiert man nicht als zeitweilige Niederlage, sondern als eine grundsätzliche Bedrohung des gesamten Gemeinwesens. Jan-Werner Müller ist Roger Williams Straus Professor für Sozialwissenschaften an der Princeton University.

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Nadav Eyal kennt die Vorboten der Revolte

Die aktuelle Globalisierung schritt schnell voran und der Einfluss globaler Beziehungen auf das Leben der Menschen nahm zu. Gleichzeitig wuchs auch die Opposition dagegen. Nadav Eyal erklärt: „Diese hat viele Gesichter: Anarchisten, Umweltschützer, Marxisten, Populisten und zahlreiche andere. Der härteste und älteste Kern der Revolte ist der Fundamentalismus.“ Manchmal kämpft er gegen die wissenschaftliche Revolution, und stets wettert er gegen die Ideen der Aufklärung und bedauert die Folgen der industriellen Revolution.“ Er schöpft seine Kraft nicht nur aus Ignoranz und Armut. Sondern er bezieht sie auch aus einem stark empfundenen Bedeutungs- und Identitätsverlust, aus der Entfremdung in der globalen Welt. Im Herbst 2008 begann die Weltwirtschaft zusammenzubrechen. Es war ein Kollaps mit lautem Getöse. Nadav Eyal ist einer der bekanntesten Journalisten Israels.

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Die Demokratie lebt von der Mündigkeit

Die Mündigkeit der Bürger verwandelt sich in eine Fiktion, wenn nicht mehr um sie gekämpft und um sie gerungen wird. Ulf Poschardt erläutert: „Eine Demokratie, die aufhört, die Mündigmachung ihrer Bürger anzustreben, könnte irgendwann aufhören, Demokratie zu sein.“ Dabei geht es um kleinere Formate des Heroischen. Wunderbare Eltern, die ihre Kinder von klein auf politisieren und aufklären. Die Mündigmachung lebt von der Infizierung nach Mündigkeit Strebender durch Mündige. Demokratische Wahlentscheidungen sind im Ideal vernunftbasierte Entscheidungen über die bestmögliche Zukunft durch mündige Wahlberechtigte. Der Wahlkampf richtet sich im Ideal an diese mündigen Wahlberechtigten. Oder er emotionalisiert, verführt, romantisiert und spricht weniger den Verstand als eine irgendwie peripher rationalisierte Institution an. Seit 2016 ist Ulf Poschardt Chefredakteur der „Welt-Gruppe“ (Die Welt, Welt am Sonntag, Welt TV).

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Europa soll bis 2050 klimaneutral werden

Die Klimaerwärmung war vor der Coronakrise ein dominierendes Thema auf der Agenda der internationalen Politik. Clemens Fuest nennt ein Beispiel: „In der EU wurde 2019 der „European Green Deal“ beschlossen.“ Es ist das zentrale politische Projekt der Europäischen Kommission unter der Präsidentschaft Ursula von der Leyen. Es soll Europa bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent machen. Die von Schülern getragene Bewegung „Fridays for Future“ erzielte hohe Aufmerksamkeit in den Medien. Kaum eine Woche verging, ohne dass Greta Thunberg irgendwo auf der Welt auftrat und die Regierenden für Untätigkeit beim Klimaschutz anklagte. Seit dem Ausbruch der Coronakrise hat sich das radikal geändert. Die Klimapolitik ist aus den Schlagzeilen verschwunden. Daher stellt sich die Frage, wie es nach der Krise mit der Klimapolitik weitergehen kann und soll. Clemens Fuest ist seit April 2017 Präsident des ifo Instituts.

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Die Demokratie braucht keine Nachrichtenflut

Interessanterweise lebten die geistigen Väter der modernen Demokratie wie Jean-Jacques Rousseau, David Hume, John Locke und Montesquieu in einer Zeit vor der Nachrichtenschwemme. Dennoch gab es damals einen gehaltvollen politischen Diskurs. Einerseits wurde er über Bücher, Pamphlete, Essays, Debattierklubs und öffentliche Versammlungen geführt. Anderseits schossen überall politische Salons aus dem Boden, die zu einem lebhaften politischen Diskurs beitrugen. Interessanterweise führten diese Begegnungsstätten meist Frauen. Rolf Dobelli fügt hinzu: „Die großen demokratischen Umwälzungen der letzten vierhundert Jahre brauchten keine Tagesschau, keine Nachrichtenportale und keine News-Feeds.“ Dazu zählen die Amerikanische Revolution, die Französische Revolution, die Revolutionen von 1848 und der Fall der DDR. Der Bestsellerautor Rolf Dobelli ist durch seine Sachbücher „Die Kunst des klaren Denkens“ und „Die Kunst des klugen Handelns“ weltweit bekannt geworden.

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Die Neue Rechte fordert die Altparteien heraus

Die Neue Rechte zieht Profit aus den Kalamitäten und Disparitäten, die jetzt die Gesellschaft kopfscheu machen. Roger de Weck erläutert: „Die Angstgesellschaft ist ihr Revier, von der Verunsicherung lebt sie. Sie nutzt und beschleunigt die Erosion der Glaubwürdigkeit traditioneller Parteien, die der Ultrakapitalismus zusehends überfordert.“ Ein Teil der Konzernwelt hat den Staat zur Flickbude degradiert, und die Regression der Politik zur Flickschusterei lädiert die Politiker. Umso leichter schleusen reaktionäre Parteien den Groll ihrer Klientele nur in die eine Richtung. Versagt haben einzig die Politik, die Demokratie, die Europäische Union – nie und nimmer das Wirtschaftssystem. Das Problem des Prekariats, das die Neue Rechte besonders umwirbt, sind nie Amazon und andere ausbeuterische Arbeitgeber, sondern die „Altparteien“. Roger de Weck ist ein Schweizer Publizist und Ökonom.

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Der Nationalismus ist eine Inszenierung der Macht

Die Gründe für den Aufstieg des Rechtspopulismus sind für Jan-Werner Müller keineswegs identisch. Radikale Rechtspopulisten haben allerdings ähnliche Strategien entwickelt. Und vielleicht könnte man sogar von einer gemeinsamen autoritär-populistischen Regierungskunst sprechen. Vereinfacht gesagt basiert diese auf Nationalismus, durch die Aneignung des Staates durch eine Partei und auf der Nutzung der Wirtschaft als Waffe zur Sicherung der politischen Macht. Das führt zu einer Mischung aus Kulturkampf, Patronage und dem, was Politikwissenschaftler Massenklientelismus nennen würden. Wobei der Nationalismus oft mehr eine Art Stimulierung von Souveränität ist. Er ist eine Inszenierung der Macht des „Volkswillens“ in Form von vermeintlich starken Gesten starker Männer. Tatsache ist, dass die heutigen Gefahren für die Demokratie mit vielen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts kaum noch etwas gemein haben. Jan-Werner Müller ist Roger Williams Straus Professor für Sozialwissenschaften an der Princeton University.

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Demokratie und Toleranz gehören zusammen

Der Staatsmann Perikles lobt im 5. Jahrhundert v. Chr. die Form der Demokratie als eine Institution, die den Bürgern Freiheit schenkt. Das aber verlangt auch Toleranz des Bürgers gegenüber seinen Mitbürgern. Der Begriff „Toleranz“ ist eine Prägung der neuzeitlichen Aufklärung im Gegenzug zu den neuzeitlichen Religionskriegen. Es ist ja der Monotheismus mit seinen jeweils verabsolutierenden Religionsauffassungen, welcher die furchtbarsten Religionskriege auslöste und immer noch auslöst. Silvio Vietta nennt Beispiele: „So den Dreißigjährigen Krieg zwischen Katholiken und Protestanten im Europa des 17. Jahrhunderts. Und eben auch die heutigen Bruderkriege zwischen Schiiten und Sunniten.“ Gemeint ist mit Toleranz eine Haltung der Offenheit und auch des Respekts gegenüber Bürgern mit anderer Weltanschauung. Prof. em. Dr. Silvio Vietta hat an der Universität Hildesheim deutsche und europäische Literatur- und Kulturgeschichte gelehrt.

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Ideen halfen beim Aufstieg des Nationalismus

Ideen waren laut Francis Fukuyama wichtig, um den Aufstieg des Nationalismus zu verstehen. Doch außerdem fanden bedeutende wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen statt. Diese bereiteten seinem Erscheinen in Europa des 19. Jahrhunderts den Boden. Francis Fukuyama blickt zurück: „Die europäische Ordnung des Mittelalters war hierarchisch und nach sozialen Klassen gegliedert gewesen.“ Der Feudalismus teilte die Bevölkerungen Europas zahllosen winzigen Gerichtsbarkeiten zu. Und er war darauf angelegt, sie an ihrem jeweiligen Ort festzuhalten. Eine moderne Marktwirtschaft ist im Unterschied dazu auf die freie Bewegung von Arbeitskräften, Kapital und Ideen angewiesen. Eine umfassende Anerkennung liberaler Gesellschaften war besonders für die kapitalistische Entwicklung förderlich. Francis Fukuyama ist einer der bedeutendsten politischen Theoretiker der Gegenwart. Sein Bestseller „Das Ende der Geschichte“ machte ihn international bekannt.

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Der Einparteienstaat wurde 1917 erfunden

Monarchie, Tyrannei, Oligarchie, Demokratie – diese Herrschaftsformen kannten schon Platon und Aristoteles vor über zwei Jahrtausenden. Doch der nicht freiheitliche Einparteienstaat wurde erst 1917 von Lenin in Russland erfunden. Heute ist er überall auf der Welt von China über Venezuela bis nach Zimbabwe zu finden. Anne Applebaum stellt fest: „Im Gegensatz zum Marxismus ist die illiberale Einparteienherrschaft keine Philosophie. Sie ist ein Mechanismus des Machterhalts und verträgt sich mit vielen Ideologien.“ Sie funktioniert, weil sie zweifelsfrei definiert, wer der Elite angehört – der politischen Elite, der kulturellen Elite, der finanziellen Elite. In den vorrevolutionären Monarchien Russlands und Frankreichs fiel das Recht zur Herrschaft der Aristokratie zu. Diese definierte sich über strenge Regeln der Heirat und der Etikette. Anne Applebaum ist Historikerin und Journalistin. Sie arbeitet als Senior Fellow an der School of Advanced International Studies der Johns Hopkins University.

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Das 20. Jahrhundert war eine Zeit der Vertreibung

Das 20. Jahrhundert war ein Zeitalter der gewaltsamen Vertreibung von Menschen aus ihrer Heimat, von Flucht und Entwurzlung. Flucht und Elendsmigration hat es zu unterschiedlichen Zeiten in der ganzen Welt gegeben. So etwa in den 1970er Jahren, als eine riesige Fluchtwelle der „Boatpeople“ in Asien anhob. Seit den Massenvertreibungen und Deportationen während und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg war Europa von keiner Zwangsmigration vergleichbaren Ausmaßes heimgesucht worden wie in den 1990er Jahren. Edgar Wolfrum erklärt: „Als Jugoslawien zerfiel und man auf dem Balkan Kriege führte, setzten massive Vertreibungen und ethnische Säuberungen ein. Fünf Millionen Menschen waren von diesem neuen nationalistischen Wahn betroffen.“ Seit der Jahrtausendwende versuchen nun Jahr für Jahr Tausende von afrikanischen Elendsflüchtlingen nach Europa zu gelangen. Edgar Wolfrum ist Inhaber des Lehrstuhls für Zeitgeschichte an der Universität Heidelberg.

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