Nationen gründen sich oftmals auf Mythen und Erzählungen

Nationen sind, so die klassische Definition von Ernest Renan, keine materiellen Phänomene, sondern geistige Prinzipien. Sie beruhen darauf, dass eine Gruppe von Menschen sich aufgrund bestimmter Merkmale wie Staatsangehörigkeit, gemeinsamer Sprache, Kultur oder Geschichte als zusammengehörig begreift. Andreas Rödder ergänzt: „Der Realitätsgehalt dieser Vorstellungen gemeinsamer Geschichte und Kultur ist in der Regel begrenzt, vielmehr beruhen sie oftmals auf Mythen und Erzählungen.“ Der amerikanische Politikwissenschaftler Benedict Anderson hat Nationen daher als „vorgestellte“ oder gar „erfundene Gemeinschaften bezeichnet – was freilich nichts an der durchschlagenden Wirkung dieser Idee in der Geschichte der westlichen Moderne ändert. Denn Gemeinschaften, die sich als Nation verstanden, wollten im 19. Jahrhundert auch in einem Staat zusammenleben. Andreas Rödder zählt zu den profiliertesten deutschen Historikern und Intellektuellen. Seit 2005 ist er Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

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Athen begründet das Mehrheitsprinzip der Demokratie

Die Demokratie ist ein Archetypus des Politischen. Bereits die homerischen Epen lassen erkennen, welche Bedeutung in Kriegergesellschaften neben physischer Stärke den Gemeindeversammlungen und Diskussionen zukam. Bernd Roeck fügt hinzu: „Der Krieg war denn auch einer der Väter der griechischen Demokratie mit ihren hochentwickelten Institutionen, stärkte er doch den Einfluss derer, die seine Hauptlast zu tragen hatten: die schwerbewaffneten Fußsoldaten.“ Die Entwicklung mag in Athen ähnlich verlaufen sein wie im Rom des 5. Jahrhunderts vor Christus, wo die Infanterie sich neben die aristokratischen Reitertruppen schob und selbstbewusst Mitsprache einforderte. Neu im Fall der athenischen Demokratie war, dass sich hier zum ersten Mal das Mehrheitsprinzip in einer größeren, arbeitsteiligen und schriftkundigen Gemeinschaft durchsetzte. Bernd Roeck ist seit 1999 Professor für Neuere Geschichte an der Universität Zürich und einer der besten Kenner der europäischen Renaissance.

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Eine pluralistische Gesellschaft hat kein gemeinsames Weltbild mehr

In den demokratischen Staaten des Westens leben die Menschen heute in einer pluralisierten Gesellschaft. Und Pluralisierung bedeutet, dass alle vollen Identitäten in die Krise geraten. Oder wertfrei gesagt: Alle vollen Identitäten erfahren eine massive Veränderung. Isolde Charim fügt hinzu: „Pluralisierung der Gesellschaft meint nicht einfach Vielfalt, sie bedeutet einen tiefgreifenden Wandel gerade der europäischen Gesellschaften. Das radikal Neue an dieser Pluralität liegt nicht einfach darin, dass unsere Gesellschaften vielfältiger werden – moralisch und religiös. Das radikal Neue liegt darin, dass wir selbst uns so grundlegend verändern in einer Gesellschaft, die kein gemeinsames Weltbild mehr hat.“ Für den Einzelnen bedeutet das: Sein Selbstverständnis verändert sich, seine ehemals volle Identität erodiert. Die Philosophin Isolde Charim arbeitet als freie Publizistin und ständige Kolumnistin der „taz“ und der „Wiener Zeitung“.

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Gute Diplomatie ist eine hohe Kunst

Am Ende zählen in der Außenpolitik nicht Symbole und Worte, sondern Entscheidungen und Taten. Wolfgang Ischinger weiß: „Der Pomp und die Umstände, die Staatsbesuche und politische Gipfel umranken, kontrastieren oft mit der Schwere der dabei besprochenen außenpolitischen Konflikte.“ Heute gilt genau wie in früheren Jahrhunderten, dass Kommunikation zwischen Mächtigen mehr ist als die juristische Ausarbeitung von Texten und Verträgen, nämlich immer auch ein zwischenmenschliches Zusammenspiel. Sonst bräuchte es keine Gipfeltreffen und keine Staatsbesuche. Sonst könnten Experten im Hinterzimmer Vertragstexte aufsetzen, die dann solange hin- und hergeschickt werden, bis eine Einigung erfolgt. Aber jeder, der einmal einen Vertrag unterschrieben hat, weiß, dass für die Unterschrift weniger das Kleingedruckte ausschlaggebend war als das wechselseitige Vertrauen in die Vertragstreue des Gegenübers. Wolfgang Ischinger ist Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz und einer der renommiertesten deutschen Experten für Außen- und Sicherheitspolitik.

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Der Staat muss die Meinungsfreiheit schützen

Der Staat muss das einsetzen, was der Soziologe Max Weber als „Monopol auf legitime physische Gewaltsamkeit“ bezeichnet, um diese Menschen zu beschützen und diejenigen zu verfolgen, die sie zu töten drohen. Timothy Garton Ash ergänzt: „Das ein Rund-um-die-Uhr-Schutz teuer ist, muss eine demokratische Regierung ihren Worten auch Taten, sprich Geld, folgen lassen, selbst wenn manche Steuer zahlenden Wähler das nicht gutheißen werden.“ Das setzt natürlich voraus, dass nicht der Staat selbst offen oder verdeckt die Quelle gewaltsamer Einschüchterung ist, sondern sie vielmehr entschlossen und mit allen Mitteln bekämpft. Doch selbst wenn ein Staat alles in seiner Macht unternimmt, um gefährdete Personen zu schützen, wird deren persönliche Erfahrung dennoch traumatisch sein. Timothy Garton Ash ist Professor für Europäische Studien an der Universität Oxford und Senior Fellow an der Hoover Institution der Stanford University.

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Die politischen Parteien sind in eine Krise geraten

Der Bürger, das war einmal der Angehörige eines definierten sozialen Standes mit bestimmten Interessen, Lebensformen und Werten, die sich in einer politischen Partei artikulierten und ausdrücken sollten. Konrad Paul Liessmann fügt hinzu: „Und der Bürger ist das Mitglied einer politischen Gemeinschaft, das je nach Lebenslage, Herkunft, Sozialisation und Perspektiven unterschiedliche, oft divergierende und rasch wechselnde Interessen, Präferenzen und Lebenskonzepte vertritt, die sich nur noch schwer im Angebot einer Partei fassen lassen und zu einer Fluktuation im Bekunden politischer Vorlieben führt.“ Traditionelle Weltanschauungsparteien mit starken Wurzeln in einer bestimmten sozialen Schicht werden mit den offenen und sich rasch wandelnden Konzepten einer Multioptionsgesellschaft konfrontiert. Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien und wissenschaftlicher Leiter des Philosophicum Lech.

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Ohne Wohlstand funktioniert keine Demokratie

Der deutsch-amerikanische Politikwissenschaftler Yascha Mounk sieht einen klaren Zusammenhang zwischen der Existenz von liberalen Demokratien und Wohlstand oder, genauer gesagt, steigendem Wohlstand. Philipp Blom ergänzt: „Tatsächlich gründen funktionierende Demokratien auf weit aufgefächerten Strukturen, auf Parlamenten, Gerichten, Schulen, Universitäten, Infrastruktur, Landesverteidigung.“ Ohne Wohlstand kann nichts von alledem gewährleistet werden. Gerade der strukturelle Zusammenbruch der westeuropäischen und US-amerikanischen Parteienlandschaft und die dort weit verbreitete Verbitterung zeigen, dass Wohlstand augenscheinlich nicht ausreicht. Denn trotz der immer weiter aufklaffenden Einkommensschere und der manifesten wirtschaftlichen Ungerechtigkeiten sind die Gesellschaften der reichen Welt heute wohlhabender als je zuvor in ihrer Geschichte. Ein typischer amerikanischer oder europäischer Haushalt ist heute fünfmal so reich wie nach dem Zweiten Weltkrieg. Philipp Blom studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford und lebt als Schriftsteller und Historiker in Wien.

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Deutschlands Politiker sind strategische Pygmäen

Die modere Politik, wie sie derzeit fast überall in Europa vorherrscht, ist gekennzeichnet durch den Verzicht von Ethos zugunsten taktischer Klugheit und höchst flexibler Grundsätze. Richard David Precht fügt hinzu: „In diesem Sinne erscheint es nur als konsequent, den Technokraten selbst das Regieren zu überlassen. Solche Technokraten tun nichts, was sie nicht meinen genau abschätzen zu können.“ Sie haben auch keine Inhalte oder Themen, sondern Inhalte und Themen kommen durch die Massenmedien auf sie zu: Finanzkrise, Schuldenkrise, Bespitzelungsaffäre, Migrationskrise. Nichts davon ist geahnt, nichts gewusst. Weil nirgendwo auf die Zukunft hin geplant und nach Überzeugungen gestaltet wird, erwartet die Politik die Themen wie das Wetter – die Diktatur der Gegenwart über die übrige Zeit; alles bewegt, nichts verändert sich. Der Philosoph, Publizist und Bestsellerautor Richard David Precht zählt zu den profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.

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Ein Gemeinwesen braucht eine politische Herrschaft

Der Kernbestandteil eines jeden Gemeinwesens besteht in einem Recht, das sich wesentlich mit Zwangsbefugnis verbindet. Seinetwegen hat jedes Gemeinwesen einen Herrschaftscharakter, weshalb nicht die „geordnete Anarchie als philosophisches Leitbild des freiheitlichen Rechtsstaates“ behauptet werden kann. Otfried Höffe erklärt: „Weil angeblich jede Regierung Rechte von Individuen verletzt, taucht selbst gegen eine von den Betroffenen ausgeübte Herrschaft Skepsis auf.“ Es ist überraschend, dass ursprünglich, im Griechischen, die Herrschaftslosigkeit durchweg negativ bewertet wird. Auch in der politischen Neuzeit, etwa von Niccolò Machiavelli über Montesquieu bis Voltaire, herrscht die negative Einschätzung vor. Erst in Karl Marx` und Friedrich Engels` These vom Absterben des Staats, bei dem davon beeinflussten Herbert Marcuse, auch in der subversiven Institutionenkritik eines Michel Foucault und nicht zuletzt in antiautoritären Bewegungen lebt der Gedanke der Herrschaftsfreiheit auf. Otfried Höffe ist Professor für Philosophie und lehrte in Fribourg, Zürich und Tübingen, wo er die Forschungsstelle Politische Philosophie leitet.

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In Deutschland findet ein Kulturkampf statt

Im Kulturkampf um die Hoheit über eine neue Identität bilden sich zunehmend Extremismen aus. Christian Schüle stellt fest: „In unfreiwilliger Ironie der Weltgeschichte lässt die politische Linke es zu, dass die Verteidigung der freien Welt heute an Nationalkonservative und die Neue Rechte delegiert wird: als Befreiung von Kulturfremdheit und Heimatschutz vor unerbetener Wanderschaft.“ Gegen die Bewegung der teils gewaltbereiten radikalen Rechten hat die Linke keine progressive Gegenkraft aufzubieten. In der Aversion gegen Europa – und gemeint ist die Europäische Union – sind extreme Linke und extreme Rechte einander bestens verbunden. In Deutschland laufen erstaunlich viele bisherige Wähler der Linkspartei, der SPD und Grünen zur AfD über, und es geht dabei nicht um Fremdenfeindlichkeit allein. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

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Es gibt keine einheitlichen Nationen

Romantische Nationalisten wie Johann Gottfried Herder begriffen Nationen als einheitlich, selbsterschaffend und selbstbestimmt. In dieser Hinsicht kann man meinen, sie ähnelten Kunstwerken. Terry Eagleton stellt fest: „Es lässt sich kaum überschätzen, wie viel Unheil diese Lehre in die moderne Welt gebracht hat. Zunächst einmal gibt es keine einheitlichen Nationen. Die meisten Gesellschaften sind ethnisch vielfältig, und alle sind sozial gespalten.“ Nationen sind politische Konstrukte, keine Naturerscheinungen. Bürger einer Region oder eines Landes, die von einer fremden Macht unterdrückt werden, haben das Recht auf Selbstbestimmung; aber es spricht einiges für die These, dass sie einen solchen Anspruch haben, weil sie Menschen sind, und nicht, weil sie ein Volk sind. Der Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker Terry Eagleton ist Professor für Englische Literatur an der University of Manchester und Fellow der British Academy.

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Willy Brandt: „Ohne Frieden ist alles nichts.“

Als frisch gewählter Bundeskanzler (1969 – 1975) erinnerte Willy Brandt an den Bau der Berliner Mauer, welche die baldige Widervereinigung als fromme Fiktion entlarvt hatte. Dennoch meinte er es sehr ernst mit seinem viel zitierten Satz: „Ohne Frieden ist alles nichts.“ Die Aussöhnung mit den östlichen Nachbarn, von Polen über die Tschechoslowakei bis Russland, Länder, die Hitler-Deutschland verwüstet und versklavt hatte, war ihm ein Herzensanliegen, eine so tief empfundene moralische Pflicht wie der Kniefall in Warschau. Josef Joffe fügt hinzu: „Für Henry Kissinger, den Sicherheitsberater von Richard Nixon, war Brandt bloß ein „politischer Romantiker“, sozusagen: Dieser Träumer weiß nicht, was er tut.“ Doch Willy Brandts moralische Botschaft war aufrichtig und hinter seinen hehren Worten steckte ein harter realpolitischer Kern, der überhaupt nicht „romantisch“ war. Josef Joffe ist seit dem Jahr 2000 Herausgeber der ZEIT.

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Vor zwanzig Jahren herrschte in Europa grenzenloser Optimismus

Vom weitverbreiteten Optimismus der frühen 1990er-Jahre ist heute nur noch wenig zu spüren. Wolfgang Ischinger schreibt: „Noch vor etwa zwanzig Jahren glaubten wir, dass die Welt sich nun nahezu unaufhörlich in die richtige Richtung bewegen würde. Demokratie, Menschenrechte und Marktwirtschaft waren überall auf dem Vormarsch.“ Internationale Organisationen übernahmen immer mehr Aufgaben und schienen ein Modell globalen Regierens zu verkörpern, das es mit Umweltverschmutzung, Kinderarbeit und Infektionskrankheiten aufnehmen würde. Vieles schien auf dem richtigen Weg. Die Gründung der Welthandelsorganisation 1995 galt als Meilenstein. Eine offene Weltwirtschaft sei langfristig gut für alle, und dafür bedürfe es gemeinsamer Regeln. Das war im Prinzip breiter Konsens, auch wenn unfaire Handelspraktiken wie Dumping oder Exportzuschüsse natürlich weiter bestanden. Wolfgang Ischinger ist Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz und einer der renommiertesten deutschen Experten für Außen- und Sicherheitspolitik.

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Die Demokratie demonstriert eine erstaunliche Widerstandskraft

Menschenrechte zu postulieren und Demokratie zu wagen ist die beste Antwort auf die berühmte Frage des amerikanischen Philosophen John Rawls, der seine Leser aufforderte, eine gerechte Gesellschaft zu konstruieren. Philipp Blom erläutert: „Sie durften wie der weise Diktator alle Gesetze der Gesellschaft selbst bestimmen – aber sie wussten noch nicht, wo in dieser Gesellschaft sie selbst sich wiederfinden würden, ob sie als Krösus oder als Bettler leben würden, als alleinerziehende Mutter, kranker Alter oder als Popstar.“ Um die eigene Chance auf ein gutes Leben unter unvorhersehbaren Umständen zu maximieren, muss die Gesellschaft für alle so fair wie möglich sein. Allerdings stirbt jede Demokratie auf ihre eigene Weise, wie der Historiker Richard J. Evens einmal bemerkt hat. Philipp Blom studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford und lebt als Schriftsteller und Historiker in Wien.

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Der Liberalismus brachte Frieden und Wohlstand

Der Liberalismus hat trotz zahlreicher Defizite eine deutlich bessere Bilanz aufzuweisen als jede seiner Alternativen. Yuval Noah Harari stellt fest: „Die meisten Menschen genossen nie mehr Frieden oder Wohlstand als unter der Ägide der liberalen Ordnung des frühen 21. Jahrhunderts.“ Zum ersten Mal in der Geschichte sterben weniger Menschen an Infektionskrankheiten als an Altersschwäche, weniger Menschen sterben an Hunger als an Fettsucht, und durch Gewalt kommen weniger Menschen ums Leben als durch Unfälle. Doch der Liberalismus hat keine offenkundigen Antworten auf die größten Probleme, vor denen die Menschheit steht: den ökologischen Kollaps und die technologische Disruption. Der Liberalismus vertraute traditionell auf das Wirtschaftswachstum, um wie durch Zauberhand schwierige gesellschaftliche und politische Konflikte zu lösen. Yuval Noah Harari ist Professor für Geschichte an der Hebrew University of Jerusalem.

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Die Politik muss die gesellschaftlichen Werte schützen

Georg Pieper vertritt die These, dass beim Thema Werte zunächst einmal die Politik gefragt ist. Die Werte zu schützen ist ihre große Aufgabe: „Politiker müssen unmissverständlich vermitteln, dass Werte wie Demokratie, Akzeptanz des Andersartigen, Freiheitsrechte oder Gleichberechtigung unantastbar sind und absolute Gültigkeit haben.“ Sie müssen Regeln formulieren und deutlich machen, dass diese Regeln von jedem Einzelnen einzuhalten sind. Hier sind nach der Überzeugung von Georg Pieper Klarheit und Konsequenz gefragt. Sowohl was den Umgang mit Gruppierungen und Bewegungen angeht, welche die Werte in Deutschland in Frage stellen oder sogar bekämpfen, als auch im Zusammenleben mit Geflüchteten, die eine andere Sozialisation als die Deutschen haben. Das konsequente Eintreten des Staates für die Grundwerte des Zusammenlebens gibt den Bürgern ein Sicherheitsgefühl und psychischen Halt und Orientierung. Dr. Georg Pieper arbeitet als Traumapsychologe und ist Experte für Krisenintervention.

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Wie Gott ist die Nation heilig

Der Nationalismus sollte sich als die erfolgreichste revolutionäre Bewegung der Moderne erweisen. Er sollte Reiche zu Fall bringen, Tyrannen stürzen und zur Gründung einer Vielzahl neuer politischer Staaten führen. Er war gewissermaßen auch, wie ein Interpret schrieb, „die Erfindung der Literaten“, was man nicht unbedingt mit weltverändernden Projekten verbindet. Terry Eagleton ergänzt: „Und der wichtigste Grund dafür war die Bedeutung, die der Nationalismus dem Kulturbegriff beimaß.“ Vor allem durch den revolutionären Nationalismus gelang es dem Kulturbegriff, so abstrakt und ungreifbar er zunächst auch erscheinen mochte, das Antlitz der Erde zu verändern. Das Verlangen der Nationen, von ihren Kolonialherren frei zu sein, erwies sich als die wirkungsvollste Verbindung von Kultur und Politik in der Moderne, weit effektiver als die sogenannte Kulturpolitik der Gegenwart. Der Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker Terry Eagleton ist Professor für Englische Literatur an der University of Manchester und Fellow der British Academy.

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In vielen Teilen der Welt ist ein Rüstungswettlauf im Gange

Die ungewöhnlich große Fülle an gefährlichen und blutigen Krisen und Konflikten wird aktuell gekrönt durch eine fortlaufende nukleare Bedrohung, die zu einer solchen Normalität geworden ist, dass sie kaum noch im Zentrum der politischen Aufmerksamkeit steht. Wolfgang Ischinger weist darauf hin, dass die Gefahr einer Konfrontation der Großmächte und damit auch einer nuklearen Eskalation keineswegs gebannt ist. Während in Deutschland aufgeregt darüber diskutiert wird, ob man das Budget für die Bundeswehr überhaupt erhöhen sollte, ist in vielen Teilen der Welt bereits längst ein Rüstungswettlauf im Gange: Chinas zunehmend selbstbewusstes Auftreten schlägt sich immer deutlicher auch in seinem militärischen Geltungsanspruch nieder. Peking rüstet auf. Wolfgang Ischinger ist Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz und einer der renommiertesten deutschen Experten für Außen- und Sicherheitspolitik.

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Die klassischen politischen Institutionen sind in Gefahr

Die Demokratie gibt es seit rund 2500 Jahren, aber in unterschiedlicher Gestalt. Von der überschaubaren Herrschaft der Bürger, wie sie die antike Polis zeitweilig bestimmte, über die römische res publica bis zu den neuzeitlichen Formen des Parlamentarismus wandelte sich die Gestalt einer Idee, die, und das scheint entscheidend, Politik als eine öffentliche, gemeinsame Angelegenheit und Herrschaft, als eine vom Volk legitimierte und kontrollierte Form der begrenzten Machtausübung verstanden hatte. Heute ist die Demokratie laut Konrad Paul Liessmann in Gefahr: „Wir beobachten nicht nur eine Erosion und Schwächung klassischer demokratischer Institutionen, sondern überhaupt die Verdrängung des Politischen durch die Interessen der Ökonomie.“ Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien und wissenschaftlicher Leiter des Philosophicum Lech.

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Die Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit

Die Demokratie ist kein Naturzustand, sie ist keine historische Notwendigkeit, ganz im Gegenteil, sie ist in höchsten Maße unnatürlich und zufällig. Sie zu erhalten ist harte Arbeit. Phillip Blom blickt in die Vergangenheit: „Liberale Demokratien mit allgemeinem, freiem und gleichem Wahlrecht haben ihren ersten Auftritt im Rampenlicht der Geschichte erst in der Nachkriegszeit.“ In Frankreich beispielsweise bekamen Frauen das Wahlrecht 1947, in der Schweiz 1971. In Ländern wie Griechenland, Portugal und Spanien kam die Demokratie spät, im östlichen Europa erst nach 1989, in Russland vielleicht nie wirklich; ältere Afroamerikaner in den USA und Aborigines in Australien können sich noch persönlich an die Zeit erinnern, bevor sie volle Bürgerrechte hatten. Philipp Blom studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford und lebt als Schriftsteller und Historiker in Wien.

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Die Menschenwürde ist durch das Grundgesetz gesichert

Die Menschenwürde ist heute in Deutschland im juristischen Sinn ein sogenanntes Leistungsrecht und durch eine sogenannte Ewigkeitsgarantie in Artikel 79 des Grundgesetzes gesichert: Jeder Mensch hat einen Anspruch auf Achtung, „unabhängig von seinen Eigenschaften, seinem körperlichen oder geistigen Zustand, seinen Leistungen oder sozialen Status“. Gerald Hüther ergänzt: „Artikel 1 des Grundgesetzes schützt somit vor Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung und ähnlichen Handlungen durch Dritte oder den Staat selbst.“ In vielen Grundsatzurteilen haben die Richter des Verfassungsgerichts immer wieder betont, dass der Mensch sich „in Freiheit selbst bestimmen und entfalten“ dürfe, „aber nicht als isoliertes und selbstherrliches, sondern als gemeinschaftsbezogenes Individuum“. Die Vorstellung von der Würde des Menschen wurde so zum Wegweiser durchs Leben, zur Erinnerung und Stütze. Gerald Hüther zählt zu den bekanntesten Hirnforschern in Deutschland.

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Russland bedroht die globale liberale Ordnung

Das wiederauferstandene Russland betrachtet sich in weitaus stärkerem Maße als die aufstrebende chinesische Supermacht als Rivalen der globalen liberalen Ordnung, doch obwohl es seine militärische Macht zurückgewonnen hat, ist es ideologisch bankrott. Yuval Noah Harari erläutert: „Wladimir Putin ist in Russland, aber auch bei verschiedenen rechten oder rechtspopulistischen Bewegungen vor allem in Europa ohne Zweifel populär doch er verfügt über keine Weltanschauung, die für arbeitslose Spanier, unzufriedene Brasilianer oder wohlmeinende Studenten in Cambridge irgendwie attraktiv sein könnten.“ Russland bietet zwar ein Gegenmodell zur freiheitlichen Demokratie, doch dieses Modell stellt keine kohärente politische Ideologie dar. Vielmehr handelt es sich um eine politische Praxis, bei der eine Reihe von Oligarchen einen Großteil des Reichtums und der Macht eines Landes monopolisieren. Yuval Noah Harari ist Professor für Geschichte an der Hebrew University of Jerusalem.

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Multikulti versus Monokulti spaltet Deutschland

Als der Göttinger Politikwissenschaftler Bassam Tibi 1998 den Begriff „Leitkultur“ ins öffentliche Gespräch brachte, ging das intellektuelle Ringen um das Selbstverständnis einer erwachsen gewordenen Nation nach dem Historikerstreit Mitte der 80er- Jahre in eine neue Runde. Christian Schüle erläutert: „Bassam Tibi hatte versucht, mit Demokratie, Laizismus, Aufklärung, Menschenrechten und Zivilgesellschaft eine kollektive Identität europäischer Nationen zu begründen.“ Zwei Jahre später nationalisierte Friedrich Merz, der damalige Vorsitzende der CDU-Bundestagsfraktion, den so eingeführten Begriff mit dem Satz, Migranten hätten sich einer „gewachsenen, freiheitlichen deutschen Leitkultur“ anzupassen – was gewiss als Gegenentwurf einer multikulturellen Gesellschaft zu verstehen war. Eine heftige Debatte folgte, Publizisten, Herausgeber, Juristen und Politiker ergriffen das Wort, und die Grünen konterten Merz` Forderungen mit dem Vorwurf, von nun an sei ein „Feuerwerk des Rassismus“ aus der Union zu befürchten. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

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Die Französische Revolution ist die Mutter aller Revolutionen

Es war und ist die Französische Revolution, an der sich das moderne Denken der Revolution überhaupt entzündet hat, die zum Maßstab, zum Angelpunkt und zum Referenzrahmen aller nachfolgenden Revolutionen werden wird, von den Revolutionen des Jahres 1848 über die Russische Revolution 1917, vom Pariser Mai des Jahres 1968 bis zum euphemistisch so genannten Arabischen Frühling. Konrad Paul Liessmann schreibt: „Im Jahre 1957 veröffentlichte der Philosoph Joachim Ritter an einem entlegenen Ort eine kleine Abhandlung mit dem Titel „Hegel und die französische Revolution“. Er sollte einer der einflussreichsten Texte der deutschen Nachkriegsphilosophie werden.“ Joachim Ritter, der später zum Oberhaupt einer gerne konservativ genannten Schule avancieren sollte, hatte darin den Versuch unternommen, Hegel vom Vorwurf, ein Verteidiger des reaktionären preußischen Staates zu sein, zu befreien. Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien und wissenschaftlicher Leiter des Philosophicum Lech.

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Heimatstolz und Patriotimus dürfen nicht verwechselt werden

Heimatstolz und Patriotismus ist eine reizvolle, gefährliche und durch die Geschichte leidvoll beglaubigte desaströse Kombination zweier Ideen. Christan Schüle weiß: „Der Stolz auf eine Heimat ist eine leerlaufende Nichtigkeit, weil Heimat nichts außer dem Selbstzweck leistet, da zu sein, und das ewiglich.“ Genauso gut könnte man stolz auf den Himmel oder eine Felsformation sein. Patriotismus dagegen muss keineswegs Heimatstolz heißen. Der Patriot ist ja ein Mensch, der gegenüber seinem Vaterland Loyalität empfindet, manchmal Treue, manchmal den wohligen Schauer der Vertrautheit, jedenfalls verbindliche Zugehörigkeit, gemäß dem unverdächtigen Cicero: „Patria est, ubicumque est bene.“ Übersetzt: „Wo es gut geht, da ist Vaterland.“ Zeitgemäß variiert: „Wo es mir gut geht, da ist meine Heimat.“ Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

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