Der Lebensschwung beansprucht Dynamik

Das Titelthema des neuen Philosophie Magazin 05/2023 beschäftigt sich diesmal mit der Frage: „Woher kommt der Lebensschwung?“ Wodurch die Existenz ins Schwingen gebracht wird, ist ganz unterschiedlich. Das kann eine Berührung sein oder eine Begegnung mit einem Menschen. Für Chefredakteurin Svenja Flaßpöhler ist jedoch eines ganz grundsätzlich klar: „Das Ja zum Leben – die Lebendigkeit – muss mit einem Mehr, mit einem Überschuss zu tun haben. Mit Momenten, die nicht einfach dem biologischen Lebenserhalt dienen, sondern den Sinn der Existenz unmittelbar fühlbar machen.“ Während der Lebensschwung Dynamik beansprucht, ist ein Dasein, das sich in Arbeit und Pflichterfüllung erschöpft, starr. Heutzutage stehen sich zwei Existenzformen diametral gegenüber: Auf der einen Seite die Pflicht, auf der anderen Seite die Lust. Der Lebensschwung weist auf einen dritten gangbaren Weg hin. Regel und Freiheit, Pflicht und Lust sind in ihm dialektisch verschränkt zu einer ganz anderen Existenzweise.

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Kinder können den Eltern sehr gut tun

Zwei jüngere Freundinnen von Karl-Markus Gauß haben jetzt, ehe es zu spät für sie geworden wäre, doch noch Kinder bekommen. Er freut sich für sie, nicht weil er glaubt, dass es die Berufung der Frau wäre, Mutter zu werden. Vielmehr weil Karl-Markus Gauß erfahren hat, wie gut einem Kinder tun können. Ihn haben die seinen von der schweren Krankheit des Zynismus, der ihn an Leib und Seele zu zersetzten drohte, geheilt. So haben sie ihn vor dem selbst verschuldeten Untergang gerettet. Wer Kinder hat, kann sich nicht gemütlich in seinem Weltverdruss einrichten. Ebenso wenig darf er als Kollaborateur des Missglückenden darauf setzen, dass die Dinge ihn schon in der schlechten Meinung, die er von ihnen hat, bestätigen werden. Karl-Markus Gauß lebt als Autor und Herausgeber der Zeitschrift „Literatur und Kritik“ in Salzburg. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt und oftmals ausgezeichnet.

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Gefahren sind schwer einzuschätzen

Zu den schwierigsten Dingen für den menschlichen Verstand gehört es, Gefahren realistisch einzuschätzen. Konkrete Bedrohungen des Alltags sind noch relativ leicht abzuschätzen. Als Beispiele nennt Richard David Precht mulmige Situationen in der nächtlichen Großstadt oder in einem Park, die Gefahr abzustürzen, sich zu vergiften oder überfahren zu werden. Ganz anders aber sieht die Sache aus, wenn man allgemeine Lebens- und Todesrisiken überschauen muss. Richard David Precht erläutert: „Unser animalischer Instinkt für Gefahren wird schnell machtlos und weicht auffälligen Fehleinschätzungen. So überschätzt man etwa die Gefahr, in Deutschland durch einen islamistischen Terroranschlag zu sterben, maßlos.“ De facto ist es hierzulande wahrscheinlicher, bei einem Blitzschlag ums Leben zu kommen, als durch ein entsprechendes Attentat. Der Philosoph, Publizist und Autor Richard David Precht einer der profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.

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Pluralität ist das zentrale Thema von Hannah Arendt

Es gibt ein Motiv, dass sich wie ein roter Faden durch alle Publikationen von Hannah Arendt zieht. Es handelt sich dabei um die Pluralität. Juliane Rebentisch erklärt: „Die Überzeugung, dass die Entfaltung menschlicher Würde auf Pluralität angewiesen ist, bestimmt ihren Begriff der Öffentlichkeit und ihre Unterscheidung von Macht und Herrschaft.“ Sie motiviert Hannah Arendts Kritik der modernen Arbeitsgesellschaft ebenso wie ihre Aversion gegen die Gleichsetzung von Souveränität und Freiheit sowie den Sog der Brüderlichkeit. Sie ist in ihrer frühen Kritik der Assimilation ebenso präsent wie im Spätwerk über das Denken und Urteilen. Kurz: Hannah Arendts Texte kann man in wesentlichen Zügen als Beiträge zu einer „Apologie der Pluralität“ lesen. Juliane Rebentisch ist Professorin für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main.

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Moralische Urteile geben kein Wissen wieder

In den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts war das Wichtigste an der Moral die Frage nach ihrer kognitiven Dimension. Das bedeutet nicht, dass in der gesellschaftlichen Erfahrung ihr Wahrheitsanspruch im Vordergrund gestanden wäre. Alexander Somek weiß: „In gewisser Weise war das Gegenteil der Fall. Vor vierzig oder fünfzig Jahren verstanden sich viele als Relativisten oder gar Skeptiker.“ Die Moral der Gegenwart ist davon auffällig verschieden. In der Praxis des moralischen Urteils manifestiert sich ein Selbstverständnis über die Bedeutung des moralischen Urteils. Das entspricht in der Metaethik dem, was man gemeinhin als „Emotivismus“ bezeichnet. Nach emotivistischer Auffassung geben moralische Urteile kein Wissen wieder. Sie haben keinen kognitiven Gehalt. Alexander Somek ist seit 2015 Professor für Rechtsphilosophie und juristische Methodenlehre an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien.

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Pflanzen sind die Grundlage der menschlichen Existenz

In der neuen Sonderausgabe des Philosophiemagazins dreht sich alles um das Thema „Pflanzen“. Chefredakteurin Jana Glaese schreibt: „Pflanzen sind die Wurzeln dieser Welt. Ohne sie hätten wir weder Sauerstoff zum Atmen noch Nahrung zum Überleben. Sie sind die Grundlage unserer körperlichen Existenz. Und viel mehr als das.“ Manchen Menschen geben Pflanzen auch eine tiefe seelische Orientierung. Im Wald zum Beispiel finden sie Rückzug und Resonanz, in der Interaktion mit Pflanzen Entschleunigung und innere Ruhe. Überhaupt scheint die Pflanzenwelt immer mehr als Vorbild zu dienen, etwa für andere Formen des Zusammenlebens auf diesem Planeten. Aber das Handeln vieler Menschen gegenüber der Natur zeugt bei Weitem nicht immer von Achtsamkeit und Anschmiegung, sondern oft von Distanz und Herrschaftswillen. Bis heute beansprucht der Mensch seine Verfügungsgewalt über die Flora. Er rodet Wälder, modifiziert Arten, bedient sich der Böden – bis zur Erschöpfung.

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Nichts in dieser Welt ist dauerhaft

Indem Buddha feststellt „alles ist Leiden“, erinnert er daran, dass das Leben von der Geburt bis zum Tod aus einer Folge schmerzlicher Erfahrungen besteht. Frédéric Lenoir ergänzt: „Und selbst wenn wir einen glücklichen Moment erleben, bleibt dieser doch zerbrechlich.“ „Alles ist unbeständig“, auch das lehrt Buddha. Nichts in dieser Welt ist dauerhaft und für immer festgeschrieben. Genauso ist es mit den Begierden der Menschen. Viele leiden darunter, dass sie das, was sie begehren, nicht besitzen werden. Zweitens leiden sie an der Angst, dass sie verlieren, was sie besitzen. Drittens schließlich leiden sie am Verlust dessen, was sie besessen haben. Es sieht also in der Tat so aus, was wäre das Böse im Alltag weitaus gegenwärtiger als das Gute. Wenngleich das natürlich von einem zum anderen Individuum deutlich variieren kann. Frédéric Lenoir ist Philosoph, Religionswissenschaftler, Soziologe und Schriftsteller.

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Vor Friedrich Nietzsche gab es keine Psychologie

Friedrich Nietzsche schreibt in „Jenseits von Gut und Böse“: „Allmählich hat sich mir herausgestellt, was jede große Philosophie bisher war. Nämlich das Selbstbekenntnis ihres Urhebers und eine Art ungewollter und unvermerkter mémoires.“ Laut Christian Niemeyer ging des dem Philosophen darum, „den Denker durch den Menschen zu erläutern.“ Friedrich Nietzsche hatte die Absicht die Psychologie als „Herrin der Wissenschaften“ zu etablieren. In „Die fröhliche Wissenschaft“ heißt es: „Ein Psychologe kennt wenig so anziehende Fragen, wie die nach dem Verhältnis von Gesundheit und Philosophie.“ Eine andere Bemerkung aus „Ecce homo“ lautet: „Wer war überhaupt vor mit unter den Philosophen Psycholog und nicht viel mehr dessen Gegensatz höherer Schwindler, Idealist? Es gab vor mir noch gar keine Psychologie.“ Der Erziehungswissenschaftler und Psychologe Prof. Dr. phil. habil. Christian Niemeyer lehrte bis 2017 Sozialpädagogik an der TU Dresden.

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Identität kann erworben und verdient werden

Es gibt angeblich eine zentrale Bedeutung der Entdeckung „zu wissen, wer man ist“. Der Politiktheoretiker Michael Sandel hat diese Behauptung auf erhellende Weise erklärt: „Gemeinschaft beschreibt nicht nur, was sie als Mitbürger haben, sondern auch, was sie sind. Es handelt sich dabei nicht um eine Beziehung, die sie wählen, sondern um eine Bindung, die sie entdecken. Das ist nicht nur ein Attribut, sondern ein konstituierender Bestandteil ihrer Identität.“ Amartya Sen weiß: „Die Entdeckung, wo wir stehen, ist jedoch nicht der einzige Weg zu einer bereichernden Identität. Diese kann auch erworben und verdient werden.“ Menschen sind nicht in ihre vorgefundenen Standorte und Zugehörigkeiten eingesperrt. Amartya Sen ist Professor für Philosophie und Ökonomie an der Harvard Universität. Im Jahr 1998 erhielt er den Nobelpreis für Ökonomie.

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Orte der Versuchung schärfen die Mündigkeit

Die Mündigkeit wächst in Zonen der Verführung und der Rechtsfreiheit. Ulf Poschardt fügt hinzu: „Sie sind selten und in Rechtsstaaten kaum toleriert, aber in Teilen geduldet. Als Freiheitslabore aber sind sie Inkubatoren von Glück, Fortschritt und jeder Menge wunderbarer Sauereien.“ Die Fähigkeit zur Gewissensentscheidung ist eine Voraussetzung für Mündigkeit. Daher sind die Orte der Versuchung eine wichtige Prüfung, um seine Mündigkeit zu schärfen. Als Verfassungspatriot neigt man zu Nulltoleranz gegenüber rechtsfreien Räumen. Den Deutschen, linken wie rechten, ist kein Vorwand zu blöd, um über die Einschränkung von Freiheitsräumen nachzudenken. Im Nachtleben wären mehr Kontrollen tödlich, zumindest für den freien Geist des Nachtlebens, jener Mischung aus Balz, Bordeaux und Petting. Seit 2016 ist Ulf Poschardt Chefredakteur der „Welt-Gruppe“ (Die Welt, Welt am Sonntag, Welt TV).

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Das Sinnenleben ist nicht vollkommen privat

Die Anthropologie reduzierte das Sinnenleben zumeist auf eine flüchtige, vollkommen private Form des individuellen Seelenlebens. Es erscheint für Emanuele Coccia tatsächlich müßig, etwas spezifisch Menschliches in einer unbestimmten Gemeinsphäre finden zu wollen. Denn diese wird mit unendlich vielen Lebensformen geteilt. Diese sind ihrerseits im Hinblick auf ihren Ethos, ihre Gewohnheiten, ihre Maße und Wurzeln unendlich vielfältig. Emanuele Coccia fordert: „Ein Mensch zu werden, sollte bedeuten, ein Leben nach dem Leben erlangen zu können.“ Ebenso schwierig dürfte es sein, das Fundament des Gemeinsamen, des Zusammenlebens mit anderen zu erkennen. Dessen ungeachtet nimmt die menschliche „Vita activa“, das ureigenste Leben, augenscheinlich ihren Anfang bereits in bestimmten Bildern. Durch diese begreift ein Mensch die Welt und ihre Formen. Emanuele Coccia ist Professor für Philosophiegeschichte an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris.

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Nur der Mensch besitzt einen Geist

Johann Gottlieb Fichte schreibt: „Der Mensch ist nur insofern und in dem Grade Mensch, als er Geist hat.“ In der Geschichte des philosophischen Denkens findet man nur wenige Begriffe, die in ihrer Bedeutung umfassender und zugleich vielfältiger sind als der des „Geistes“. In der europäischen Tradition kommt er als pneuma, nous, logos, spiritus, mens, intellectus, ratio, esprit und mind vor. Um nur die wichtigsten zu nennen. Volker Gerhardt erklärt: „Sie weisen in sich vielfältige Schattierungen auf. Und ihre Anwendung findet sich so gut wie in allen Disziplinen des Denkens. Vornehmlich in Metaphysik, Naturphilosophie, Theologie, Pädagogik und Politische Philosophie.“ Wie undogmatisch man diesen Begriff verwenden kann, belegt Montesquieus Abhandlung über den „Geist der Gesetze“. Volker Gerhardt war bis zu seiner Emeritierung 2014 Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität in Berlin.

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Die absolute Wahrheit gibt es nicht

Absolute Wahrheit mag ein möglicher Gedanke sein, doch er erreicht und berührt die Menschen nicht. Eben weil er in ihrer immer endlichen Perspektive – in ihrem individuellen Leben – keine sie persönlich betreffende Rolle spielt und spielen kann. 1+1=2 lässt sie vollkommen kalt. Peter Trawny ergänzt: „Selbst, wenn ein Leben ohne Rechnen denkbar ist, habe ich keine persönliche Beziehung zu ihm.“ Sind die Menschenrechte eine solche absolute Wahrheit, da sie für jeden Menschen als solchen gelten, so ist doch bis heute offenbar, wie unbedeutend sie sind. Wenn es Menschenrechte gibt, dann müssen diese mit einer Welt zusammenhängen, in der die Menschen wirklich und wahrhaftig leben. Sie müssen also Mitglieder einer Gemeinschaft sein, die für diese Menschen einzutreten in der Lage ist. Peter Trawny gründete 2012 das Matin-Heidegger-Institut an der Bergischen Universität in Wuppertal, dessen Leitung er seitdem innehat.

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Es gibt nicht nur eine Wahrheit

Eine Definition der Wahrheit ist, dass sie die möglichst hohe Übereinstimmung einer Information über einen Sachverhalt mit der Wirklichkeit, also der objektiven Realität, beschreibt. Leider begegnet der Mensch in seinem Alltag nicht nur Wahrheiten. Sondern er trifft auf eine Vielzahl von Informationen unterschiedlicher Qualität. Der Verstand des Empfängers nimmt dieses Sammelsurium von Informationen auf und bewertet sie hinsichtlich Relevanz und Wahrheitsgehalt. Ille C. Gebeshuber ergänzt: „Und hier spielt das Glauben an den Wert der Information beziehungsweise an deren Quelle eine wichtige Rolle. Die subjektive Wahrheit und somit unser ganzes Wissen ergibt sich aus Informationen, an die wir glauben.“ Die Tugend der Ehrlichkeit verliert hier an Wert, denn meist stehen die Vermittler von Informationen in einer Vertrauenskette. Ille C. Gebeshuber ist Professorin für Physik an der Technischen Universität Wien.

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Jeder Mensch ist von anderen abhängig

Die Sozialphilosophie beschäftigt sich mit lebendigen und haltbaren Bindungen. Diese müssen mit Blick darauf gedacht werden, dass die der Verteidigung würdigen „Selbste“ im politischen Raum gesellschaftlich ungleiche Artikulationsbedingungen haben. Judith Butler erklärt: „Die Beschreibung der sozialen Bindungen, ohne die das Leben gefährdet ist, ist auf der Ebene einer Sozialontologie angesiedelt. Diese ist eher als ein gesellschaftliches Imaginäres denn als eine Metaphysik des Sozialen zu begreifen.“ Anders gesagt lässt sich ganz allgemein davon ausgehen, dass Leben durch soziale Interdependenz gekennzeichnet ist. Gewalt stellt einen Angriff auf diese Interdependenz dar, einen Angriff auf Personen, ja, aber noch grundlegender einen Angriff auf „Bindungen“. Obgleich Interdependenz Differenzierungen von Unabhängigkeit und Abhängigkeit begründet, impliziert sie auch soziale Gleichheit. Judith Butler ist Maxine Elliot Professor für Komparatistik und kritische Theorie an der University of California, Berkeley.

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Thomas Nagel kennt die Bedeutung von Wörtern

Wie kann ein Wort etwas bedeuten? Normalerweise besteht zwischen einem Namen und dem Gegenstand, dessen Name er ist, keinerlei Ähnlichkeit. Die fragliche Relation muss grundsätzlich von ganz anderer Art sein. Thomas Nagel erklärt: „Es gibt viele Wortarten. Einige davon benennen Personen und Dinge, andere bezeichnen Qualitäten oder Tätigkeiten. Wieder andere bezeichnen Relationen zwischen Dingen oder Ereignissen.“ Einige benennen Zahlen, Örter oder Zeitpunkte. Und einige wie „und“ und „von“, verdanken ihre Bedeutung einzig ihrem Beitrag zur Bedeutung größerer Aussagen oder Fragen, in denen sie vorkommen. Wörter werden zumeist beim Sprechen und Schreiben verwendet und nicht einfach bloß als Namensschilder. Wenn man dies stillschweigend voraussetzt, stellt sich dennoch die Frage, wie ein Wort eine Bedeutung haben kann. Der amerikanische Philosoph Thomas Nagel lehrt derzeit unter anderem an der University of California, Berkeley und an der Princeton University.

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Der Imperialismus hat die Europäer geprägt

Das Bewusstsein für die Relativität von Wertesystemen fließt heutzutage in zahlreiche historische und kulturelle Studien ein. Carlo Rovelli betont: „Es hilft uns, uns ein wenige von unserem natürlichen Provinzialismus zu lösen.“ Zudem erlaubt es, diejenige Sichtweise zu korrigieren, die der europäische Imperialismus deformierte. Diese hat die Europäer geprägt und ihnen suggeriert, dass der westliche Standpunkt der einzig vernünftige ist. Und dieses Bewusstsein hilft den Europäern auch zu verstehen, dass das, was sie wahr, schön und gut finden, von anderen anders gesehen werden kann. Wenn die Naturwissenschaften selbst keine Sicherheit bieten können, dann sollte dies umso mehr ein Grund dafür sein, nicht alles für bare Münze zu nehmen, was man für wahr hält. Seit dem Jahr 2000 ist Carlo Rovelli Professor für Physik an der Universität Marseille.

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Die Logik ist eine Wissenschaft

Die Logik ist die Lehre von der Verhältnisbestimmung zwischen Gedanken. Markus Gabriel erläutert: „Das altgriechische Wort „logos“ hat eine Bedeutungsspannweite, die Verhältnis, Maß, Aussage, Sprache, Denken, Rede, Wort und Vernunft umfasst.“ Platon und Aristoteles haben die Logik als Wissenschaft etabliert. Es geht dabei um die Frage, wie verschiedene Gedanken zusammenhängen sollen, wenn man etwas Neues durch reine Gedankenverknüpfung erkennen will. Deswegen beschäftigt sich die Logik traditionell mit den drei Themen Begriff, Urteil und Schluss. Ein Begriff ist etwas, das man aus einem Gedanken herauslösen kann, um ihn für einen anderen Gedanken weiterzuverwenden. Seit 2009 hat Markus Gabriel den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne. Zudem ist er dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.

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In Europa gab es lange keine Demokratie

Es ist für Silvio Vietta eigentlich unfassbar, wie lange nach der römischen Republik und deren Zusammenbruch dann die Demokratie in Europa ruht. Es war eine Art Grabesruhe für Jahrhunderte. Im Mittelalter gab es zaghafte Neuansätze in den sich bildenden Stadtkulturen. Die Schweiz macht sich nach dem erfolgreichen Kampf gegen die Habsburger Vorherrschaft in der Schlacht von Sempach 1386 frei von deren Vorherrschaft. Das kleine Land in Mitteleuropa beschritt damit einen Weg hin zu einer halb-direkten Demokratie. Silvio Vietta fügt hinzu: „Ansätze zu einer parlamentarischen Demokratie gab es vor allem in England, wo ab dem 13. Jahrhundert der Monarchie ein Parlament gegenübertrat.“ Prof. em. Dr. Silvio Vietta hat an der Universität Hildesheim deutsche und europäische Literatur- und Kulturgeschichte gelehrt.

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Jeder sollte seiner inneren Bestimmung folgen

Glück und Erfüllung wird in der altindischen „Bhagavadgita“ darin gesehen, dass ein Mensch seiner inneren Bestimmung folgt. Dabei lässt er sich nicht davon beirren, ob sich ein äußerer Erfolg einstellt oder nicht. Andreas Kitzler erklärt: „Das Entscheidende ist, dass er sich selbst treu bleibt, auf sein Inneres hört, aufrichtig und authentisch ist und danach handelt. Dann wird er die innere Seelenruhe besitzen, selbst Misserfolge heiter und gelassen hinzunehmen.“ Er ruht in der Geborgenheit seines Innern und bezieht daraus all sein Glück und seine Freude. Das ist seine unversiegbare Kraftquelle. Sie garantiert, dass er alles in seiner Macht Stehende auf die beste Weise ins Werk setzt. Dadurch wird er nur selten Misserfolg bei seinen äußeren Unternehmungen haben. Der Philosoph und Jurist Dr. Albert Kitzler ist Gründer und Leiter von „MASS UND MITTE“ – Schule für antike Lebensweisheit.

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Geist und Kultur gehören zusammen

Niemand kann ernsthaft bestreiten, dass der Mensch ein Naturwesen ist und somit zur Natur gehört. Strittig ist lediglich, in welchem Umfang dies der Fall ist und wo man die Grenze zu dem ziehen kann, was nicht oder nicht mehr zur Natur gehört. Einer der letzten philosophischen Autoren, die meinten, hier eine definitive Antwort geben zu können, ist Max Scheler. Dieser glaubte im ausdrücklich gesprochenen „Nein“ des Menschen den Übertritt in eine andere, nicht mehr zur Natur gehörende Sphäre des Geistes entdeckt zu haben. Volker Gerhard betont: „Vom Geist zu sprechen liegt so nahe wie die Rede von der menschlichen Kultur.“ Fraglich ist nur, ob beide derart prinzipiell von der ihr zugrundeliegenden Natur abzugrenzen sind. Volker Gerhardt war bis zu seiner Emeritierung 2014 Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität in Berlin.

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Normverstöße gehören zum Leben

Das Ziel der Ethik ist nicht die größtmögliche Lebenssicherheit. Richard David Precht stellt fest: „Es ist die Chance auf ein erfülltes Leben für möglichst viele Menschen. Normen sollen uns dazu dienen. Keinesfalls ist es ihr Sinn, dass wir ihnen dienen.“ Und wenn man sich über Normverstöße aufregt, so ist es doch gut, dass es sie gibt. Wer wollte in einem Land leben, in dem jeder Verstoß bemerkt und geahndet wird? Jeder moralische Grundsatz wird zu einem Gräuel, wenn er uneingeschränkt zur starren Regel erhoben wird. Immer ehrlich sein, immer gerecht, immer fair, immer mitfühlend, immer großzügig, immer dankbar und so weiter. Wer möchte so sein? Ist dies tatsächlich ein erfülltes Leben? Der Philosoph, Publizist und Autor Richard David Precht zählt zu den profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.

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Wahrheit ist der Wille der Überwältigung

Für Friedrich Nietzsche bedeutet der Wille zur Wahrheit: „Ich will nicht täuschen, auch mich selbst nicht.“ Und hiermit befindet er sich auf dem Boden der Moral. Im Nachlass vom Herbst 1887 findet sich sogar noch eine Steigerungsform. Wahrheit sei ein Name „für den Willen der Überwältigung. Wahrheit hineinlegen, als ein aktives Bestimmen, nicht als Bewusstsein von etwas, das an sich fest und bestimmt wäre. Es ist ein Wort für den Willen zur Macht.“ Christian Niemeyer weist darauf hin, dass man gegen diese Pointe das Bedenken vortragen könnte, Friedrich Nietzsche moralisiere hiermit das Wahrheitsproblem. Und er verfehle die in seinem Grundansatz an sich die sehr viel zwingendere Psychologisierung des Moralbegriffs. Der Erziehungswissenschaftler und Psychologe Prof. Dr. phil. habil. Christian Niemeyer lehrte bis 2017 Sozialpädagogik an der TU Dresden.

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Das Subjekt mutiert zum Objekt

Wer zu viele Fragen stellt, statt sich mit den verfügbaren Erklärungsvideos zufriedenzugeben, lebt riskant. Man verliert die Zeit, die andere nutzen, um als Erste abzuräumen. Man versäumt es, die Entweder-Oder-Taste zu drücken. Und dann? Rebekka Reinhard erläutert: „Dann steht der Erfolg, herausgerissen aus dem binären System, plötzlich als isolierte Größe da. Und es stellt sich heraus: Er repräsentiert nicht die Wahrheit, sondern die Lüge.“ Denn der Gewinn, den das vom Erfolgsheroismus infizierte, zum Objekt mutierte Subjekt einzuheimsen meint, zerrinnt ihm zwischen den Fingern. Klicks, Likes, Status, Reputation begründen keine reiche, sondern eine arme Existenz. Die Illusion eines guten Lebens. Die vermeintlichen Erfolgshelden rennen und rennen. Aber die Entwickler der Nullen-und-Einsen-Welt sind längst zehn Schritte weiter. Die Philosophin Rebekka Reinhard war bis zur Einstellung der Zeitschrift stellvertretende Chefredakteurin des Magazins „Hohe Luft“.

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Die Aufklärung hat seit jeher Feinde

Der mit der Aufklärung verbundene Fortschritt hatte seit jeher Feinde. Dazu gehören heue auch religiöse Konservative. Ihnen missfallen Ideen wie die Evolution und einigen sind die Toleranz und der Liberalismus ein Dorn im Auge. Hinzu kommen Menschen, deren wirtschaftliche Interessen im Widerspruch zu naturwissenschaftlichen Erkenntnissen stehen. Joseph Stiglitz nennt als Beispiel die Eigentümer von Bergbauunternehmen und ihre Arbeiter. Da sie in erheblichem Umfang zur globalen Erwärmung und zum Klimawandel beitragen, müssen sie damit rechnen, dass man ihren Betrieb schließt. Um die politische Macht zu erlangen, bedurfte es der Unterstützung der Wirtschaft insgesamt, die als Gegenleistung Deregulierung und Steuersenkungen verlangte. Joseph Stiglitz war Professor für Volkswirtschaft in Yale, Princeton, Oxford und Stanford. Er wurde 2001 mit dem Nobelpreis für Wirtschaft ausgezeichnet.

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