Nicht alle Leben sind gleich wertvoll

Gewaltlosigkeit ist eine ethische Frage im Kraftfeld der Gewalt. Am besten lässt sich Gewaltlosigkeit vielleicht als Widerstandspraxis beschreiben. Diese ist eben in dem Moment möglich, wenn nicht gar erforderlich, in dem die Ausübung von Gewalt am meisten gerechtfertigt und offensichtlich scheint. Judith Butler stellt fest: „So lässt sich Gewaltlosigkeit als Praxis verstehen, die nicht nur einem gewaltsamen Akt oder Prozess Einhalt gebietet, sondern selbst nachhaltiges – und möglicherweise durchaus aggressiv durchsetztes – Handeln erfordert.“ Judith Butlers Auffassung nach lässt sich also Gewaltlosigkeit nicht einfach als Abwesenheit von Gewalt oder als Enthaltung von Gewalt begreifen. Vielmehr muss man sie als anhaltendes Engagement, ja als Umlenkung von Aggression zum Zweck der Verteidigung der Ideale von Gleichheit und Freiheit verstehen. Judith Butler ist Maxine Elliot Professor für Komparatistik und kritische Theorie an der University of California, Berkeley.

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Paul Kirchhof kennt die Freiheitsrechte

Die Verfassung gewährleistet nicht Freiheit, sondern ein Freiheitsrecht, das definiert, begrenzt, auf die Freiheiten anderer und das Gemeinwohl abgestimmt ist. Paul Kirchhof betont: „Im Mittelpunkt des Rechtsstaates steht die Freiheit.“ Die Menschen wehren sich gegen Sklaverei, gegen willkürliche Verhaftung, gegen Entrechtung und Verachtung bestimmter Gruppe und Einzelpersonen. Im Kern weist das Freiheitsanliegen die Obrigkeit in Distanz und unterbindet deren Willkür durch Recht. Ist dieses Freiheitsziel erreicht, beginnt der Aufbau einer vorbereitenden Freiheitsordnung. Diese verhindert zukünftige Freiheitsverletzungen und fördert den Freiheitsberechtigten in der Freiheitswahrnehmung und der Mitgestaltung des Gemeinwesens. Der Gesetzgeber erlässt ein Bürgerliches Gesetzbuch, gibt damit der Eigentümer- und Berufsfreiheit die Möglichkeit verbindlichen Gestaltens. Dr. jur. Paul Kirchhof ist Seniorprofessor distinctus für Staats- und Steuerrecht an der Universität Heidelberg.

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Edmund Husserl erschafft die Phänomenologie

Fast unmittelbar nach Immanuel Kant versuchen Philosophen Denken und Wirklichkeit wieder zusammenzubringen. Sei es nun durch eine „Phänomenologie des Geistes“ wie bei Hegel oder durch eine „Philosophie des Willens“ wie bei Arthur Schopenhauer. Ger Groot weiß: „Am Ende dieses Jahrhunderts gibt der Mathematiker und Philosoph Edmund Husserl dem Denken Immanuel Kants eine bedeutende Wendung. Auch Husserl geht davon aus, dass die primäre Gegebenheit unserer Erkenntnis darin besteht, dass uns die Dinge erscheinen.“ Sie sind Phänomene – daher der Name der philosophischen Schule, die er ins Leben ruft: Phänomenologie. Auf Basis dieser Feststellung geht er, ebenso wie Immanuel Kant, auf die Möglichkeitsbedingungen der Phänomene zurück. Ger Groot lehrt Kulturphilosophie und philosophische Anthropologie an der Erasmus-Universität Rotterdam. Außerdem ist er Professor für Philosophie und Literatur an der Radboud Universität Nijmegen.

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Die Kunst schweißt die Menschen zusammen

Kunst schafft Symbole und verwandelt so menschliche Gruppen in Überlebensmaschinen. Sie schweißt die Menschen zusammen. Stefan Klein erklärt: „Kunst wurde demnach umso bedeutender, je mehr Personen zusammenlebten. Zu Schmuckstücken umgewandelte Muscheln etwa können Status und Individualität signalisieren.“ Wenn nämlich Menschen geistig dazu imstande sind, in einem Gegenstand ein Zeichen für etwas ganz anderes zu sehen, hören die bemalten Muscheln auf, nur Kalkschalen von Weichtieren zu sein. Sie sind Zeichen für das Zusammenleben geworden. Solange die Menschen nur sehr wenige waren und kaum Austausch mit anderen pflegten, benötigten sie keine solchen Symbole. Niemand legt im engsten Familienkreis ein Collier an. Stefan Klein zählt zu den erfolgreichsten Wissenschaftsautoren der deutschen Sprache. Er studierte Physik und analytische Philosophie in München, Grenoble und Freiburg.

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Im Spiegel vervielfältigt sich die eigene Gestalt

Das Reich der Bilder, die Sinnenwelt, ist ein an den Rändern einer spezifischen Kraft – des rezeptiven Vermögens – errichtetes Reich. Emanuele Coccia erläutert: „Indem das Medium die materielose Form in sich empfängt, trennt es sie von ihrem gewohnten Substrat und ihrer Natur.“ In den Begriffen der Scholastik ist das Medium der Ort der Abstraktion, also der Abtrennung. Das Sinnliche ist die von ihrer natürlichen Existenz abgetrennte, abstrahierte Form. So existiert das eigene Abbild im Spiegel oder einer Fotografie wie losgelöst von der eigenen Person, in einer anderen Materie, an einem anderen Ort. Die Trennung ist die wesentliche Funktion des Ortes. Einer Form einen Ort zuzuweisen, bedeutet, sie von den anderen zu trennen. Sie von der Kontinuität und der Vermischung mit dem übrigen Körper abzulenken. Emanuele Coccia ist Professor für Philosophiegeschichte an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris.

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Der Hass ist das Gegenteil der Liebe

Band 25 des Philosophicums Lech handelt von einem elementaren Gefühl: dem Hass. Negative Gefühle gibt es viele, aber nur dem Hass kann man scheinbar nichts Positives abgewinnen. Er ist der einzige Affekt, der generell als unzulässig erachtet wird. Konrad Paul Liessmann erklärt: „Es geht nur noch darum, wie wir ihn eindämmen, neutralisieren, entschärfen, zurückdrängen und bekämpfen können.“ Anders als Wut und Zorn ist Hass in hohem Maße auf Verbalisierung und Aktionismus angewiesen. Dem Hass könnte man allenfalls entgehen, wenn man seine moralischen Überzeugungen immer wieder in Frage stellt. Konrad Paul Liessmann betont: „Den Hass zu neutralisieren wird nur gelingen, wenn uns klar wird, wie tief wir in dieses Gefühl gerade dann verstrickt sind, wenn wir uns frei davon wähnen.“

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Leonardo da Vincis Neugier war unstillbar

Im Frühjahr findet man den „Doldigen Milchstern“ häufig auf Wiesen, Ödland und selbst in Parks. Volker Reinhardt weiß: „Leonard da Vinci musste Mailand, wo er von 1482 bis 1499 lebte, also nicht einmal verlassen, um die attraktive Pflanze mit den oben schneeweißen, unten weißgrünen Blütenblättern in sein Notizbuch zu zeichnen.“ Bei einem Spaziergang in seinem Weinberg, einer verwilderten Gartenanlage oder in einem Zierwäldchen stieß er auch auf das „Gelbe Windröschen“. Dieses scheint auf dem gleichen Zeichenblatt zu beiden Seiten des Milchsterns zu wachsen. Auch die „Garten-Wolfsmilch“, die er unten rechts auf das Blatt zeichnete, konnte er bei dieser Gelegenheit pflücken. Ebenso die beiden anderen Wolfsmilcharten, von denen auf dem Blatt nur die oberen Blütenstände festgehalten sind. Volker Reinhardt ist Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Fribourg. Er gehört international zu den führenden Italien-Historikern.

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Zarathustra singt das Mitternachtslied

Friedrich Nietzsches „Mitternachtslied“ aus „Also sprach Zarathustra“ beginnt mit einer eindringlichen Anrufung, die ein Rätsel darstellt: Weder weiß man, wer genau hier spricht, noch zu wem eigentlich gesprochen wird. „Oh Mensch! Gieb Acht!“ Nach dem Kapitel „Das andere Tanzlied“ hebt dieser Gesang an – unmittelbar, ohne Einleitung oder Vorwarnung, ohne epische Szenerie oder Erläuterung. Konrad Paul Liessmann fragt: „Ist es Zarathustra selbst, der dieses Lied für sich intoniert? Ist es das allegorisierte Leben, das Zarathustra diese Worte als größtes Geheimnis ins Ohr flüstert? Sind es die Schläge der Mitternachtsglocke, die diese Verse mit sich hinaustragen in die Welt?“ Konrad Paul Liessmann ist Professor für Philosophie an der Universität Wien. Zudem arbeitet er als Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist. Im Zsolnay-Verlag gibt er die Reihe „Philosophicum Lech“ heraus.

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Die Moral wird zur Komplizin des Bösen

Die begründungsabstinente Unbekümmertheit der Moral in der Gegenwart manifestiert sich an der Identifizierung sexistischer oder rassistischer Signale. Über deren verwerflichen Charakter herrscht große Einmütigkeit. Bei der Einmütigkeit handelt es sich jedoch nicht um den zwanglosen Zwang des besseren Arguments. Alexander Somek fragt: „Ist eine Darstellung dann sexistisch, wenn sie Frauen als Sexualobjekte zeigt, obwohl doch das wechselseitige Sich-Zum-Objekt-Machen zur Sexualität gehört?“ Es wäre doch wohl verkehrt anzunehmen, dass durch die Affirmation des Umstands, dass heterosexuelle Männer auf Frauen stehen, die Unterordnung der Frau unter den Mann ratifiziert wird. Wäre die „Heteronormativität“ der Skandal, dann müsste auch gezeigt werden, in welchem Zusammenhang sie mit dem männlichen Sexismus steht. Alexander Somek ist seit 2015 Professor für Rechtsphilosophie und juristische Methodenlehre an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien.

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In Deutschland herrscht eine geringe Chancengleichheit

Die Ungleichheit bei den Markteinkommen in Europa zählt hierzulande zu den höchsten und ist fast so hoch wie in den USA. Das reflektiert eine geringe Chancengleichheit und damit auch eine niedrige soziale Mobilität. Marcel Fratzscher weiß: „Das liegt darin begründet, dass das Einkommen der Spitzenverdiener überwiegend aus Unternehmensbesitz resultiert. Fast 80 Prozent dieser Unternehmen befinden sich in der Hand von Familien.“ Diese können ihren Besitz dank großzügiger Ausnahmeregelungen der Erbschaftssteuer fast steuerfrei an die nächste Generation weitergeben. Zum anderen sind die zu geringe Qualität und die fehlende Inklusion innerhalb des Bildungssystems eine Ursache dafür. In Deutschland hängen die Bildungs- und Berufschancen nur sehr begrenzt von den Talenten und Fähigkeiten der jungen Menschen, sondern viel mehr von Einkommen und Bildungsgrad ihrer Eltern ab. Marcel Fratzscher ist Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) und Professor für Makroökonomie an der Humboldt-Universität zu Berlin.

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In Krisen sind Menschen emotional verunsichert

Vielleicht basieren viele kleine und große Krisen auf völlig falschen Perspektiven. Christian Uhle fügt hinzu: „Vielleicht erkennen Menschen in solchen Situationen keine tiefere Wahrheit, sondern sind emotional verunsichert. Vielleicht ist das Leben durch und durch sinnvoll, nur manchmal sehen wir das nicht und verlieren unser Gefühl für den Sinn.“ Fakt ist, dass die meisten Menschen im Laufe ihres Lebens mit Empfindungen von Sinnlosigkeit umgehen müssen. Wie kann ein Mensch solche Erfahrungen besser verstehen? Ebenso wie die Liebe zu den eigenen Eltern ganz anders ist als die stürmische Verliebtheit am Anfang einer romantischen Beziehung, so hat auch das Gefühl der Sinnlosigkeit tausend Gesichter. Wie die Liebe lässt es sich nicht präzise beschreiben, sondern nur umkreisen. Das Anliegen des Philosophen Christian Uhle ist es, Philosophie in das persönliche Leben einzubinden.

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Echtes Vermögen sieht man nicht

Geld steckt voller Ironie, eine wichtige lautet: Vermögen ist, was man nicht sieht. Morgan Housel weiß: „Wer einen Ferrari herumfahren sieht, hält den Besitzer meist automatisch für reich – auch wenn er ihn kaum beachtet.“ Doch nachdem Morgan Housel einige der Fahrer näher kennengelernt hatte, merkte er, dass sie beileibe nicht alle wohlhabend waren. Viele hatten nur mäßigen Erfolg, steckten dafür aber einen Großteil ihres Einkommens in ihr Auto. Jemand, der mit einem 100.000-Dollar-Auto herumfährt, mag reich sein. Aber im Grunde weiß man nur, dass er 100.000 Dollar weniger besitzt als vor dem Kauf des Autos – oder 100.000 Dollar mehr Schulden hat. Das ist alles, was man über ihn weiß. Morgan Housel ist Partner bei der Risikokapitalgesellschaft The Collaborative Fund.

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Die Forschung konstruiert ein Bild der Welt

Das explizite Ziel wissenschaftlicher Forschung ist nicht, korrekte quantitative Vorhersagen zu machen, sondern zu verstehen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Was bedeutet das? Carlo Rovelli antwortet: „Es bedeutet, ein Bild der Welt zu konstruieren. Das heißt eine konzeptuelle Struktur des Denkens über die Welt zu entwickeln, die effizient und kompatibel mit dem ist, was wir über sie wissen.“ Die Naturwissenschaften existieren, weil die Menschheit sehr wenig weiß und unzählige falsche Annahmen hegt. Wissenschaft wird aus dem geboren, was die Menschen nicht wissen und dem Bezweifeln dessen, was sie zu wissen meinen. Diese Meinung hält aber einer rationalen Überprüfung oder einer kritischen Analyse nicht stand. Seit dem Jahr 2000 ist Carlo Rovelli Professor für Physik an der Universität Marseille.

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Vaclav Smil weiß wie die Welt wirklich funktioniert

Vaclav Smil vertritt in seinem neuen Buch „Wie die Welt wirklich funktioniert“, dass bei den meisten Menschen ein hochgradiges Unverständnis für die grundlegende Funktionsweise der modernen Welt besteht. Zwei wichtige Ursachen für dieses auf Ignoranz zustrebende Verständnisdefizit heißen Verstädterung und Mechanisierung. Die meisten heutigen Stadtbewohner haben jeden persönlichen Bezug nicht nur zur Erzeugung von Lebensmitteln verloren, sondern auch zu der Art und Weise, wie man Maschinen und Geräte baut. Es gibt einen zweiten Hauptgrund für das schwache und weiter nachlassende Verständnis, mit denen man Energie und Baumaterialien erzeugt. Sie haben das Image bekommen, unmodern, wenn nicht sogar obsolet geworden zu sein. Jedenfalls ausgesprochen uncool im Vergleich zur Welt der Medien, Informationen, Daten und Bildern. Vaclav Smil ist Professor Emeritus für Umweltwissenschaften an der University of Manitoba. Er hat unter anderem das Grundlagenwerk „Energy and Civilization“ geschrieben.

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Algorithmen benötigen eine stabile Welt

Beim Online-Dating hat zwar jede Person ein Profil, aber das Profil ist nicht die Person. Gerd Gigerenzer weiß: „Die Menschen neigen dazu, ihre Profile zu schönen. Und selbst wenn sie gewissenhaft zu Werke gehen, wird das Profil nicht der Vielschichtigkeit eines Menschen gerecht.“ Allgemeiner kommt diese Erkenntnis im „Prinzip der stabilen Welt“ zum Ausdruck. Komplexe Algorithmen arbeiten am zuverlässigsten in wohldefinierten, stabilen Situationen, in denen große Datenmengen zur Verfügung stehen. Die menschliche Intelligenz dagegen hat sich entwickelt, um Ungewissheit zu bewältigen, unabhängig davon, ob Big oder Small Data vorliegen. Die Regeln von Schach oder Go sind wohldefiniert und insofern stabil, als sie heute und morgen gelten. Gerd Gigerenzer ist ein weltweit renommierter Psychologe. Das Gottlieb Duttweiler Institut hat Gigerenzer als einen der hundert einflussreichsten Denker der Welt bezeichnet.

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Der Mensch denkt in Begriffen

Es ist berechtigt und sogar zielführend, vom menschlichen Denken auszugehen und sich von dieser relativ sicheren Position aus den Leistungen von Tieren zu nähern. Schließlich wissen Mensch sowohl aus der Ich-Perspektive als auch durch die Du-Perspektive der gegenseitigen sprachlichen Vermittlung, wie sie bestimmte Entscheidungen treffen. Und sie erkennen dadurch die Motive ihres Handelns, welche Ziele sie verfolgen und wie sich dabei fühlen. Ludwig Huber erläutert: „Dieser Erlebens-Aspekt ist von zentraler Bedeutung. Darüber hinaus nehmen wir als Wissenschaftler auch noch die Perspektive der Person ein. So machen wir menschliches Denken und Handeln zu einem objektiven Untersuchungsgegenstand.“ Ein zentraler Aspekt menschlichen Denkens ist die Begriffsbildung. Ludwig Huber ist Professor und Leiter des interdisziplinären Messerli Forschungsinstituts für Mensch-Tier-Beziehungen an der Veterinärmedizinischen Universität Wien.

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Geschmack ist die weibliche Form des Genius

Geschmack bezeichnete F. Scott Fitzgerald – ganz Gentleman der alten Schule – als die weibliche Form des Genius. In diesem Sinne wäre die Boutiquisierung der Kultur – folgte man dem Machismo Fitzgeralds – auch ein Erfolg der weiblichen Emanzipation. Ulf Poschardt erklärt: „Die Kultur wird metrosexuell. Vielleicht überlebt das Buch am Ende nur am Coffeetable und das Tanztheater nur in Modeschauen.“ Die Organisation und Reproduktion von Lebensstilen verlangen als Mündigkeitsanstrengung vor allem „kulturelles Kapital“, wie das Pierre Bourdieu vermutet. Kurz vor dem Eintritt in die Zwanzigerjahre des 21. Jahrhunderts hat der Postmaterialismus die Mündigwerdung reidealisiert und dabei auch die Rollenbilder verschoben. Die Klimabewegung Fridays for Future trat 2019 als eine extrem weibliche Protestbewegung hervor. Seit 2016 ist Ulf Poschardt Chefredakteur der „Welt-Gruppe“ (Die Welt, Welt am Sonntag, Welt TV).

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Mythen prägten die griechische Tragödie

In der griechischen Tragödie spielte die Handlung in der mythologischen Vergangenheit, da man genau diese Vergangenheit am Ende überwand. Ágnes Heller ergänzt: „Bei Shakespeare spielte sich die Handlung hauptsächlich in der historischen Vergangenheit ab. Und nicht nur die aus der englischen Geschichte, sondern auch Hamlet, Macbeth oder König Lear – denn man kann die Geschichte nur hinter sich lassen, wenn man in ihr aufgeht. Die klassische französische Tragödie folgte beiden Vermächtnissen, ähnlich wie die Barockoper. Im griechischen Drama spielte der Chor immer eine entscheidende Rolle, nicht nur in Tragödien, sondern auch in Komödien des Aristophanes. Ab 1977 lehrte Ágnes Heller als Professorin für Soziologie in Melbourne. 1986 wurde sie Nachfolgerin von Hannah Arendt auf deren Lehrstuhl für Philosophie an der New School for Social Research in New York.

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Der Mensch ist von Natur aus ein gieriges Wesen

Silvio Vietta stellt fest: „Der englische Staatstheoretiker und Philosoph Thomas Hobbes geht davon aus, dass der Mensch in seinem Naturzustand ein gieriges Wesen ist. Dieses will alles haben und dem ja auch alles offen zu stehen scheint.“ Wenn aber nun alle Mitmenschen naturgemäß auch so veranlagt sind, entsteht daraus zwangsläufig eine Art Konkurrenz aller gegen alle um die vorhandenen Ressourcen. Thomas Hobbes hat dies noch schlimmer formuliert, nämlich als „Krieg aller gegen alle“. Wie kann man dem gegensteuern? Nach Thomas Hobbes eigentlich nur so, dass sich die Menschen verpflichten, ihre Macht an einen Dritten abzutreten, der für diese Preisgabe aber eines verbürgt: Sicherheit und Ordnung. Prof. em. Dr. Silvio Vietta hat an der Universität Hildesheim deutsche und europäische Literatur- und Kulturgeschichte gelehrt.

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Tyrannenmord ist moralisch gerechtfertigt

Klaus-Peter Hufer stellt folgende Frage: „Darf direkte, personale Gewalt angewendet werden, um indirekte, strukturelle Gewalt zu verhindern?“ Beim revolutionären Widerstand gegen Diktaturen und/oder terroristische Regime gibt es wohl keine Wahl. Tyrannenmord ist durchaus erlaubt und moralisch gerechtfertigt. Den Widerständlern vom 20. Juli 1944 blieb keine Alternative zum Versuch, Adolf Hitler zu ermorden. Wie steht es aber um den Widerstand unter prinzipiell demokratischen Verhältnissen? Für Protagonisten des gewaltfreien Widerstands stellt sich diese Frage nicht. Zum einen werden von ihrer Seite „erhebliche Zweifel an den Erfolgschancen gewaltsamer Kampfmittel“ geäußert. Zum anderen sind Verluste an Menschenleben und Produktionsmittel nicht gerechtfertigt. Klaus-Peter Hufer promovierte 1984 in Politikwissenschaften, 2001 folgte die Habilitation in Erziehungswissenschaften. Danach lehrte er als außerplanmäßiger Professor an der Uni Duisburg-Essen.

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Die Lebensqualität hat sich dramatisch verbessert

Vor dem Erscheinen des Homo sapiens als eigene Spezies vor fast 300.000 Jahren, war das Leben der Menschen bestimmt von Überlebensinstinkt und Vermehrungstrieb. Der Lebensstandard entsprach mehr oder weniger dem Existenzminimum und veränderte sich weltweit im Lauf der Jahrtausende kaum. Oded Galor stellt fest: „Erstaunlicherweise haben sich jedoch unsere Daseinsbedingungen in den letzten paar Jahrhunderten radikal gewandelt. Im Verhältnis zur langen Geschichte unserer Spezies hat die Menschheit praktisch über Nacht eine dramatische und beispielslose Verbesserung der Lebensqualität erfahren.“ Lange herrschte die Ansicht vor, die Lebensstandards seinen schrittweise über die gesamte Menschheitsgeschichte hinweg gestiegen. Doch das ist ein verzerrtes Bild. Oded Galor ist israelischer Wirtschaftswissenschaftler und mehrfach ausgezeichneter Professor an der Brown University, USA. Er forscht vor allem zum Thema Wirtschaftswachstum.

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Konrad Paul Liessmann kennt die Kraft der Fiktion

Alle Formen der Höflichkeit beruhen auf einer Fiktion, auf einem „So tun als ob“. Konrad Paul Liessmann erklärt: „Wir tun so, als ob es uns interessierte, wie es einem anderen geht, wie dessen Urlaub war, was seine Kinder machen. Täten wir nicht so als ob, hätten wir einander entweder nichts oder viel zu viel zu sagen.“ Dass man so tut als ob, und dass dabei alle mitspielen, ist die Vorbedingung dafür, dass Menschen in eine produktive Interaktion treten können. Man muss einander ein wechselseitiges Interesse unterstellen, damit man seine tatsächlichen Interessen zur Sprache bringen kann. Konrad Paul Liessmann ist Professor für Philosophie an der Universität Wien. Zudem arbeitet er als Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist. Im Zsolnay-Verlag gibt er die Reihe „Philosophicum Lech“ heraus.

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Die westliche Wissenschaft lebt von vielen Einflüssen

Wichtig ist für Amartya Sen die Erkenntnis, dass sich die sogenannte westliche Wissenschaft auf das Erbe der gesamten Menschheit stützt: „Es besteht ein Traditionszusammenhang zwischen der Mathematik und Wissenschaft des Westens und frühen nicht-westlichen Vorläufern. So gelangte das Dezimalsystem, das in den ersten Jahrhunderten des ersten Jahrtausends in Indien entwickelt wurde, gegen Ende des Jahrtausends über die Araber nach Europa.“ Zu Wissenschaft, Mathematik und Philosophie haben viele Einflüsse aus nichtwestlichen Gesellschaften – u.a. der chinesischen, der arabischen, der persischen, der indischen – beigetragen. Diese spielten erst in der Renaissance und später in der Aufklärung in Europa eine bedeutende Rolle. Der Westen spielt also beim weltweiten Aufblühen von Wissenschaft und Technik nicht als einziger eine führende Rolle. Amartya Sen ist Professor für Philosophie und Ökonomie an der Harvard Universität. Im Jahr 1998 erhielt er den Nobelpreis für Ökonomie.

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Es gibt einen moralischen Fortschritt

Markus Gabriel fordert: „Forschung muss sich am moralischen Wohl der Menschheit ausrichten.“ Wären alltägliche Situationen moralisch unauflösbar, von Dilemmata geprägt, wäre es unmöglich, absichtsvoll das Richtige zu tun. Wenn man dann doch einmal das Richtige, sprich das Gute täte, wäre dies reiner Zufall in einer komplexen Lage. Doch das würde bedeuten, dass man niemals in der Lage wäre, moralisch zu handeln. Die Handlungen wären ein Spielball des Zufalls, den man allenfalls noch annähernd mit verhaltensökonomischen oder evolutionsbiologischen Modellen beschreiben könnte. Nur so könnte man statistische Aussagen darüber machen, wie Menschen sich verhalten und wie man sie lenken kann. Markus Gabriel hat seit 2009 den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne. Zudem ist er dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.

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Eva von Redecker stellt einen neuen Freiheitsbegriff vor

Eva von Redecker schlägt in ihrem neuen Buch „Bleibefreiheit“ einen radikal neuen Freiheitsbegriff vor, der mit der traditionell räumlichen Perspektive der Freiheit bricht. Stattdessen spürt sie der Freiheit in ihren zeitlichen Zusammenhängen nach. Ihr Essay erkundet die Freiheit, die seine Lebenszeit einem Menschen schenkt, die sich in seiner einzigartigen Fähigkeit zum Neuanfang erfüllt. Diese Freiheit kommt in der Verwurzelung des Menschen in Natur und Gemeinschaft zur Ruhe. Eva von Redecker schreibt: „Bleibefreiheit lässt sich nur gemeinsam herstellen. Und sie wächst, wenn wir sie teilen.“ So gesehen bildet das Bleiben geradezu den Nullpunkt der Freiheit. In vielen Fällen ist das Bleiben auch eine Forderung. Das macht aus ihm allerdings noch keine Freiheit. Eva von Redecker ist Philosophin und freie Autorin. Sie beschäftigt sich mit der Kritischen Theorie, Feminismus und Kapitalismuskritik.

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