Nach innen schauend sah Augustinus eine unermessliche Welt

Mit Ende zwanzig hatte Augustinus das Gefühl, von sich selbst entfremdet zu sein. Er führte ein beschwerliches Leben, und es verschaffte ihm nicht jene tiefere Sättigung, die er sich wünschte. Er hatte Begierden, deren Befriedigung ihn nicht glücklich machte, und dennoch folgte er weiterhin seinen Lüsten. Augustinus reagierte auf diese Lebenskrise, indem er seinen Blick nach innen richtete. Eigentlich sollte man meinen, dass jemand, der über seine Ichbezogenheit entsetzt ist, nach Selbstvergessenheit strebt. David Brooks fügt hinzu: „Sei Rat wäre: Sieh von dir selbst ab und wende deine Aufmerksamkeit anderen zu.“ Aber Augustinus unternahm zunächst eine beinahe wissenschaftliche Entdeckungsreise in sein Inneres. David Brooks arbeitet als Kommentator und Kolumnist bei der New York Times. Sein Buch „Das soziale Tier“ (2012) wurde ein internationaler Bestseller.

Der Mensch ist sich selbst ein gewaltiger Abgrund

Kein Zweiter hatte in der Geschichte des Abendlandes bis dahin die Fundamente seiner Psyche ähnlich gründlich freigelegt. Nach innen schauend sah Augustinus eine unermessliche Welt, die sich seiner Kontrolle entzog. Er erkannte in sich eine Tiefe und Vielschichtigkeit, die so gut wie niemand vor ihm beobachtet hatte: „Wo vollziehen sich denn in der einen Seele so unterschiedliche Gewichtungen der vielen verschiedenen Arten der Liebe? […] Der Mensch ist sich selbst ein gewaltiger Abgrund.“

Diese riesige Innenwelt gleicht einem unentwegt umbrechenden, vagen Vexierbild. Augustinus nimmt bei seiner Innenschau einen Tanz kurzlebiger Empfindungen wahr und erahnt tiefe Abgründe unterhalb der Schwelle des Bewusstseins. So war Augustinus zum Beispiel fasziniert vom Gedächtnis. Manchmal blitzen schmerzliche Erinnerungen ungebeten im menschlichen Bewusstsein auf. Die Fähigkeit der Psyche, die Schranken von Zeit und Raum zu überwinden, erstaunte ihn: „Ich halte mich im Finstern und in der Stille auf und kann doch, wenn ich will, aus meinem Gedächtnis Farben hervorrufen.“

Augustinus fürchtete seine verborgenen Sünden

Allein der schiere Umfang der Erinnerungen eines Menschen verwunderten Augustinus: „Groß ist sie, die Kraft des Gedächtnisses, gewaltig ist sie, mein Gott, ein weiter, ein unendlicher Innenraum. Wer erreichte je seinen Grund? Und doch handelt es sich um die Kraft meines Geistes. Sie gehört zu meinem Wesen, aber ich selbst fasse nicht das Ganze, das ich bin. Sollte also der Geist zu eng sein, um sich selbst zu enthalten?“ Aus dieser Abenteuerreise in sein Inneres kehrt Augustinus mit zwei Schlussfolgerungen zurück.

Erstens erkannte er, dass Menschen zwar mit hervorragenden Fähigkeiten geboren werden, die Erbsünde aber ihre Begierden verdorben hat. Bis zu diesem Zeitpunkt in seinem Leben hatte Augustinus gewisse Dinge wie Ruhm und Ansehen inbrünstig begehrt. Diese Dinge machten ihn nicht glücklich. Und trotzdem strebte er weiterhin danach. Zweitens schlussfolgerte er, dass Menschen für sich selbst ein Problem sind. Jeder sollte sich mit Misstrauen betrachten. Augustinus schrieb: „Denn ich fürchte meine verborgenen Sünden.“ Quelle: „Charakter“ von David Brooks

Von Hans Klumbies